Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

müssen glaubte. Die Verwirrung aller sittlichen Begriffe, welche das Wachs¬
thum der Sozialdemokratie zur Folge hatte, steht in absolut keiner Verbindung
mit dem Import französischer Dramen in Deutschland, nicht einmal mit dem
frivolen französischen Operettenkram. Die tumultuarischen, unreifen Gesellen,
die sich um die Fahne raffinirter Parteiführer schaarten und dem verlockenden
Flötenspiel dieser Rattenfänger folgten, hat man niemals im Residenztheater
bei den Dramen eines Dumas, Sardon oder Angler, niemals im Friedrich-
Wilhelmstüdtischen Theater bei den Operetten eines Offenbach und Lecoq ge¬
sehen. Sie bildeten vielmehr und bilden noch das Publikum jener Volkstheater,
von deren Einwirkung die Parlamentsredner einen neuen "Aufschwung" der
Nation erwarteten. Sie bildeten und bilden das Publikum jener vulgären Tingel¬
tangel, in denen der Besucher an einem Abende mehr Geld vergeudet, als ein
anständiger Platz in einem guten Theater kostet. Der Beamte in Stettin ist
inzwischen, wie es zu erwarten war, von seiner obersten Behörde rektifizirt
worden. Indessen gibt es noch immer Leute genug in Deutschland, die das
Stück als grenzenlos unsittlich und innerlich unwahr verdammen. Das könig¬
liche Schauspielhaus beabsichtigte ursprünglich die Ausführung dieses Dramas.
Aber es fand vor den Augen des dort gewissermaßen als vorbereitende Instanz
fungirenden Lesekomites keine Gnade. Mit der Fernhaltung der "Fourcham-
bault" von der ersten Bühne des deutschen Reiches wird Jedermann im Prinzip
einverstanden sein, der etwas auf nationale Ehre hält. Ein modernes deutsches
Stück auf dem IdüAtrk trg,mya.i3 in Paris würde einen Sturm der Entrüstung
in ganz Frankreich hervorrufen. Der wohlbegründete Ruf dieses in eminenten
Sinne nationalen Institutes, das sich jede auswärtige Bühne in seiner einzigen
Verfassung zum Muster nehmen könnte, wäre durch ein solches Unterfangen
auf immer befleckt. Das dortige Lesekomite würde nicht einmal auf den Ge¬
danken kommen, die Arbeit eines modernen deutschen Bühnendichters einer
ernstlichen Prüfung zu unterziehen. Daß man sich im Berliner Schauspielhause
überhaupt mit den "Fourchambault" befaßt hat, war schon an und für sich
ein Zugestündniß der Schwäche. Eines Urtheils hätte man sich aber völlig
enthalten sollen. Freilich ist dieses Urtheil uicht offiziell abgegeben worden,
sondern nur in offiziöser Form, d. h. durch einen Artikel in einem dem Hof¬
theater ergebenen Blatte, der augenscheinlich von der Hand einer Dame ge¬
schrieben war, und in dem auch mit echt weiblichen Gründen gefochten wurde.
Wir wollen so galant sein, den schriftstellerischen Versuch dieser Dame, welche
Emil Angler's Drama nur uach einer jammervollen deutschen Uebersetzung
beurtheilte, nicht einer Kritik zu unterziehen. Einer Dame kann man es am
Ende nicht verargen, daß sie nicht die Fähigkeit besitzt, sich auf den historisch¬
kritischen Standpunkt zu erheben, von welchem allein ein objektives Urtheil


Grenzboten II. 1379. 20

müssen glaubte. Die Verwirrung aller sittlichen Begriffe, welche das Wachs¬
thum der Sozialdemokratie zur Folge hatte, steht in absolut keiner Verbindung
mit dem Import französischer Dramen in Deutschland, nicht einmal mit dem
frivolen französischen Operettenkram. Die tumultuarischen, unreifen Gesellen,
die sich um die Fahne raffinirter Parteiführer schaarten und dem verlockenden
Flötenspiel dieser Rattenfänger folgten, hat man niemals im Residenztheater
bei den Dramen eines Dumas, Sardon oder Angler, niemals im Friedrich-
Wilhelmstüdtischen Theater bei den Operetten eines Offenbach und Lecoq ge¬
sehen. Sie bildeten vielmehr und bilden noch das Publikum jener Volkstheater,
von deren Einwirkung die Parlamentsredner einen neuen „Aufschwung" der
Nation erwarteten. Sie bildeten und bilden das Publikum jener vulgären Tingel¬
tangel, in denen der Besucher an einem Abende mehr Geld vergeudet, als ein
anständiger Platz in einem guten Theater kostet. Der Beamte in Stettin ist
inzwischen, wie es zu erwarten war, von seiner obersten Behörde rektifizirt
worden. Indessen gibt es noch immer Leute genug in Deutschland, die das
Stück als grenzenlos unsittlich und innerlich unwahr verdammen. Das könig¬
liche Schauspielhaus beabsichtigte ursprünglich die Ausführung dieses Dramas.
Aber es fand vor den Augen des dort gewissermaßen als vorbereitende Instanz
fungirenden Lesekomites keine Gnade. Mit der Fernhaltung der „Fourcham-
bault" von der ersten Bühne des deutschen Reiches wird Jedermann im Prinzip
einverstanden sein, der etwas auf nationale Ehre hält. Ein modernes deutsches
Stück auf dem IdüAtrk trg,mya.i3 in Paris würde einen Sturm der Entrüstung
in ganz Frankreich hervorrufen. Der wohlbegründete Ruf dieses in eminenten
Sinne nationalen Institutes, das sich jede auswärtige Bühne in seiner einzigen
Verfassung zum Muster nehmen könnte, wäre durch ein solches Unterfangen
auf immer befleckt. Das dortige Lesekomite würde nicht einmal auf den Ge¬
danken kommen, die Arbeit eines modernen deutschen Bühnendichters einer
ernstlichen Prüfung zu unterziehen. Daß man sich im Berliner Schauspielhause
überhaupt mit den „Fourchambault" befaßt hat, war schon an und für sich
ein Zugestündniß der Schwäche. Eines Urtheils hätte man sich aber völlig
enthalten sollen. Freilich ist dieses Urtheil uicht offiziell abgegeben worden,
sondern nur in offiziöser Form, d. h. durch einen Artikel in einem dem Hof¬
theater ergebenen Blatte, der augenscheinlich von der Hand einer Dame ge¬
schrieben war, und in dem auch mit echt weiblichen Gründen gefochten wurde.
Wir wollen so galant sein, den schriftstellerischen Versuch dieser Dame, welche
Emil Angler's Drama nur uach einer jammervollen deutschen Uebersetzung
beurtheilte, nicht einer Kritik zu unterziehen. Einer Dame kann man es am
Ende nicht verargen, daß sie nicht die Fähigkeit besitzt, sich auf den historisch¬
kritischen Standpunkt zu erheben, von welchem allein ein objektives Urtheil


Grenzboten II. 1379. 20
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0157" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/142112"/>
          <p xml:id="ID_453" prev="#ID_452" next="#ID_454"> müssen glaubte. Die Verwirrung aller sittlichen Begriffe, welche das Wachs¬<lb/>
thum der Sozialdemokratie zur Folge hatte, steht in absolut keiner Verbindung<lb/>
mit dem Import französischer Dramen in Deutschland, nicht einmal mit dem<lb/>
frivolen französischen Operettenkram. Die tumultuarischen, unreifen Gesellen,<lb/>
die sich um die Fahne raffinirter Parteiführer schaarten und dem verlockenden<lb/>
Flötenspiel dieser Rattenfänger folgten, hat man niemals im Residenztheater<lb/>
bei den Dramen eines Dumas, Sardon oder Angler, niemals im Friedrich-<lb/>
Wilhelmstüdtischen Theater bei den Operetten eines Offenbach und Lecoq ge¬<lb/>
sehen. Sie bildeten vielmehr und bilden noch das Publikum jener Volkstheater,<lb/>
von deren Einwirkung die Parlamentsredner einen neuen &#x201E;Aufschwung" der<lb/>
Nation erwarteten. Sie bildeten und bilden das Publikum jener vulgären Tingel¬<lb/>
tangel, in denen der Besucher an einem Abende mehr Geld vergeudet, als ein<lb/>
anständiger Platz in einem guten Theater kostet. Der Beamte in Stettin ist<lb/>
inzwischen, wie es zu erwarten war, von seiner obersten Behörde rektifizirt<lb/>
worden. Indessen gibt es noch immer Leute genug in Deutschland, die das<lb/>
Stück als grenzenlos unsittlich und innerlich unwahr verdammen. Das könig¬<lb/>
liche Schauspielhaus beabsichtigte ursprünglich die Ausführung dieses Dramas.<lb/>
Aber es fand vor den Augen des dort gewissermaßen als vorbereitende Instanz<lb/>
fungirenden Lesekomites keine Gnade. Mit der Fernhaltung der &#x201E;Fourcham-<lb/>
bault" von der ersten Bühne des deutschen Reiches wird Jedermann im Prinzip<lb/>
einverstanden sein, der etwas auf nationale Ehre hält. Ein modernes deutsches<lb/>
Stück auf dem IdüAtrk trg,mya.i3 in Paris würde einen Sturm der Entrüstung<lb/>
in ganz Frankreich hervorrufen. Der wohlbegründete Ruf dieses in eminenten<lb/>
Sinne nationalen Institutes, das sich jede auswärtige Bühne in seiner einzigen<lb/>
Verfassung zum Muster nehmen könnte, wäre durch ein solches Unterfangen<lb/>
auf immer befleckt. Das dortige Lesekomite würde nicht einmal auf den Ge¬<lb/>
danken kommen, die Arbeit eines modernen deutschen Bühnendichters einer<lb/>
ernstlichen Prüfung zu unterziehen. Daß man sich im Berliner Schauspielhause<lb/>
überhaupt mit den &#x201E;Fourchambault" befaßt hat, war schon an und für sich<lb/>
ein Zugestündniß der Schwäche. Eines Urtheils hätte man sich aber völlig<lb/>
enthalten sollen. Freilich ist dieses Urtheil uicht offiziell abgegeben worden,<lb/>
sondern nur in offiziöser Form, d. h. durch einen Artikel in einem dem Hof¬<lb/>
theater ergebenen Blatte, der augenscheinlich von der Hand einer Dame ge¬<lb/>
schrieben war, und in dem auch mit echt weiblichen Gründen gefochten wurde.<lb/>
Wir wollen so galant sein, den schriftstellerischen Versuch dieser Dame, welche<lb/>
Emil Angler's Drama nur uach einer jammervollen deutschen Uebersetzung<lb/>
beurtheilte, nicht einer Kritik zu unterziehen. Einer Dame kann man es am<lb/>
Ende nicht verargen, daß sie nicht die Fähigkeit besitzt, sich auf den historisch¬<lb/>
kritischen Standpunkt zu erheben, von welchem allein ein objektives Urtheil</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II. 1379. 20</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0157] müssen glaubte. Die Verwirrung aller sittlichen Begriffe, welche das Wachs¬ thum der Sozialdemokratie zur Folge hatte, steht in absolut keiner Verbindung mit dem Import französischer Dramen in Deutschland, nicht einmal mit dem frivolen französischen Operettenkram. Die tumultuarischen, unreifen Gesellen, die sich um die Fahne raffinirter Parteiführer schaarten und dem verlockenden Flötenspiel dieser Rattenfänger folgten, hat man niemals im Residenztheater bei den Dramen eines Dumas, Sardon oder Angler, niemals im Friedrich- Wilhelmstüdtischen Theater bei den Operetten eines Offenbach und Lecoq ge¬ sehen. Sie bildeten vielmehr und bilden noch das Publikum jener Volkstheater, von deren Einwirkung die Parlamentsredner einen neuen „Aufschwung" der Nation erwarteten. Sie bildeten und bilden das Publikum jener vulgären Tingel¬ tangel, in denen der Besucher an einem Abende mehr Geld vergeudet, als ein anständiger Platz in einem guten Theater kostet. Der Beamte in Stettin ist inzwischen, wie es zu erwarten war, von seiner obersten Behörde rektifizirt worden. Indessen gibt es noch immer Leute genug in Deutschland, die das Stück als grenzenlos unsittlich und innerlich unwahr verdammen. Das könig¬ liche Schauspielhaus beabsichtigte ursprünglich die Ausführung dieses Dramas. Aber es fand vor den Augen des dort gewissermaßen als vorbereitende Instanz fungirenden Lesekomites keine Gnade. Mit der Fernhaltung der „Fourcham- bault" von der ersten Bühne des deutschen Reiches wird Jedermann im Prinzip einverstanden sein, der etwas auf nationale Ehre hält. Ein modernes deutsches Stück auf dem IdüAtrk trg,mya.i3 in Paris würde einen Sturm der Entrüstung in ganz Frankreich hervorrufen. Der wohlbegründete Ruf dieses in eminenten Sinne nationalen Institutes, das sich jede auswärtige Bühne in seiner einzigen Verfassung zum Muster nehmen könnte, wäre durch ein solches Unterfangen auf immer befleckt. Das dortige Lesekomite würde nicht einmal auf den Ge¬ danken kommen, die Arbeit eines modernen deutschen Bühnendichters einer ernstlichen Prüfung zu unterziehen. Daß man sich im Berliner Schauspielhause überhaupt mit den „Fourchambault" befaßt hat, war schon an und für sich ein Zugestündniß der Schwäche. Eines Urtheils hätte man sich aber völlig enthalten sollen. Freilich ist dieses Urtheil uicht offiziell abgegeben worden, sondern nur in offiziöser Form, d. h. durch einen Artikel in einem dem Hof¬ theater ergebenen Blatte, der augenscheinlich von der Hand einer Dame ge¬ schrieben war, und in dem auch mit echt weiblichen Gründen gefochten wurde. Wir wollen so galant sein, den schriftstellerischen Versuch dieser Dame, welche Emil Angler's Drama nur uach einer jammervollen deutschen Uebersetzung beurtheilte, nicht einer Kritik zu unterziehen. Einer Dame kann man es am Ende nicht verargen, daß sie nicht die Fähigkeit besitzt, sich auf den historisch¬ kritischen Standpunkt zu erheben, von welchem allein ein objektives Urtheil Grenzboten II. 1379. 20

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/157
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/157>, abgerufen am 27.09.2024.