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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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werthen Erzeugnissen der französischen Bühnenliteratur des letzten Vierteljahr¬
hunderts vermittelt, daneben aber auch deutsche Schau- und Lustspiele, die
sich aus irgeud einem Grunde für das Hoftheater nicht eigneten, zur Auf¬
führung gebracht, ohne jedoch einen nachhaltigen Erfolg mit den letzteren
zu erzielen. Das französische Sittendrcima mit allen seinen Ablegern ist
und bleibt feine Spezialität. Bis vor zwei Jahren noch konnte sich das
Theater einer auserlesenen Zahl schauspielerischer Kräfte rühmen, welche ein
Ensemble vou solcher Präzision und Harmonie bildeten, daß damals keine
zweite Bühne Berlin's, die Hofbühne nicht ausgeschlossen, mit dem kleinen
Residenztheater rivalisiren konnte. Unter dem gegenwärtigen Leiter ist das
leider anders geworden. Er hat nichts gethan, um das vortreffliche Ensemble
zu erhalten, und heute sind von dem alten Stamm nur noch zwei Schauspieler
übrig geblieben, welche den Theaterhabitue wehmüthig nu die alte Zeit des
Glanzes erinnern. Trotzdem weiß der Leiter des Residenztheaters, dem das
Utilitätsprinzip über alles geht, seine Kasse zu füllen, indem er sich das mo¬
derne Virtuosenthum zu Nutze macht. Er hat die Wohlfahrt seines Theaters
ausschließlich auf das Gastspielwesen oder vielmehr -Unwesen gestellt. Nur
gelingt es ihm, Gäste von stärkerer Zugkraft zu gewinnen als der Direktor
des Stadttheaters. Statt, wie ein weiser Feldherr, die Kerutruppen in's
Hintertreffen zu stellen und mit der Reserve erst im Falle der Noth in's Feld
zu rücken, operirt er bereits mit Gästen, wenn die Theatersaison sich noch ans
ihrem Höhepunkte befindet. Freilich kann er mit feinem eigenen Personal, drei
oder vier Ausnahmen abgerechnet, keinen Staat machen. Es ist nur eben gut
genug, den Gästen Relief zu verleihen, und zu diesem Zwecke wird es je nach
Bedarf verringert oder vermehrt. An die Neubildung eines guten Ensembles ist
unter solchen Umständen nicht zu denken. Der Direktor ist ein kluger Rechner,
der seine Pachtfrist nach Kräften ausnutzt und im Grunde seines Herzens denkt:
^.xrös ruoi 1ö ckvIiiAS.

Trotzdem hat das Residenztheater in der verflossenen Saison wenigstens
einen künstlerischen Erfolg ohne Mitwirkung von zugkräftigen Gästen zu ver¬
zeichnen gehabt, und den verdankte es den "Fourchambault" von Emil Angler,
die selbst in das Heiligthum unseres Abgeordnetenhauses, das sich doch sonst
nicht viel um Theater-Angelegenheiten kümmert, ihren Reflex warfen. Seit
dreißig, feit fünfzig Jahren ist in Frankreich kein Stück von so streng sittlichem
Charakter geschaffen worden wie die "Fourchamvault", und gerade dieses
Schauspiel mußte von dem Verdikte eines kurzsichtigen Exekutivbeamten ge¬
troffen werden, welcher das Stück nach seinem eigenen Zugeständnisse vor dein
Verbote nicht einmal gelesen hatte, aber der durch ganz andere Ereignisse vor¬
bereiteten und hervorgerufenen Zeitströmung in seiner Art Rechnung tragen zu


werthen Erzeugnissen der französischen Bühnenliteratur des letzten Vierteljahr¬
hunderts vermittelt, daneben aber auch deutsche Schau- und Lustspiele, die
sich aus irgeud einem Grunde für das Hoftheater nicht eigneten, zur Auf¬
führung gebracht, ohne jedoch einen nachhaltigen Erfolg mit den letzteren
zu erzielen. Das französische Sittendrcima mit allen seinen Ablegern ist
und bleibt feine Spezialität. Bis vor zwei Jahren noch konnte sich das
Theater einer auserlesenen Zahl schauspielerischer Kräfte rühmen, welche ein
Ensemble vou solcher Präzision und Harmonie bildeten, daß damals keine
zweite Bühne Berlin's, die Hofbühne nicht ausgeschlossen, mit dem kleinen
Residenztheater rivalisiren konnte. Unter dem gegenwärtigen Leiter ist das
leider anders geworden. Er hat nichts gethan, um das vortreffliche Ensemble
zu erhalten, und heute sind von dem alten Stamm nur noch zwei Schauspieler
übrig geblieben, welche den Theaterhabitue wehmüthig nu die alte Zeit des
Glanzes erinnern. Trotzdem weiß der Leiter des Residenztheaters, dem das
Utilitätsprinzip über alles geht, seine Kasse zu füllen, indem er sich das mo¬
derne Virtuosenthum zu Nutze macht. Er hat die Wohlfahrt seines Theaters
ausschließlich auf das Gastspielwesen oder vielmehr -Unwesen gestellt. Nur
gelingt es ihm, Gäste von stärkerer Zugkraft zu gewinnen als der Direktor
des Stadttheaters. Statt, wie ein weiser Feldherr, die Kerutruppen in's
Hintertreffen zu stellen und mit der Reserve erst im Falle der Noth in's Feld
zu rücken, operirt er bereits mit Gästen, wenn die Theatersaison sich noch ans
ihrem Höhepunkte befindet. Freilich kann er mit feinem eigenen Personal, drei
oder vier Ausnahmen abgerechnet, keinen Staat machen. Es ist nur eben gut
genug, den Gästen Relief zu verleihen, und zu diesem Zwecke wird es je nach
Bedarf verringert oder vermehrt. An die Neubildung eines guten Ensembles ist
unter solchen Umständen nicht zu denken. Der Direktor ist ein kluger Rechner,
der seine Pachtfrist nach Kräften ausnutzt und im Grunde seines Herzens denkt:
^.xrös ruoi 1ö ckvIiiAS.

Trotzdem hat das Residenztheater in der verflossenen Saison wenigstens
einen künstlerischen Erfolg ohne Mitwirkung von zugkräftigen Gästen zu ver¬
zeichnen gehabt, und den verdankte es den „Fourchambault" von Emil Angler,
die selbst in das Heiligthum unseres Abgeordnetenhauses, das sich doch sonst
nicht viel um Theater-Angelegenheiten kümmert, ihren Reflex warfen. Seit
dreißig, feit fünfzig Jahren ist in Frankreich kein Stück von so streng sittlichem
Charakter geschaffen worden wie die „Fourchamvault", und gerade dieses
Schauspiel mußte von dem Verdikte eines kurzsichtigen Exekutivbeamten ge¬
troffen werden, welcher das Stück nach seinem eigenen Zugeständnisse vor dein
Verbote nicht einmal gelesen hatte, aber der durch ganz andere Ereignisse vor¬
bereiteten und hervorgerufenen Zeitströmung in seiner Art Rechnung tragen zu


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[0156] werthen Erzeugnissen der französischen Bühnenliteratur des letzten Vierteljahr¬ hunderts vermittelt, daneben aber auch deutsche Schau- und Lustspiele, die sich aus irgeud einem Grunde für das Hoftheater nicht eigneten, zur Auf¬ führung gebracht, ohne jedoch einen nachhaltigen Erfolg mit den letzteren zu erzielen. Das französische Sittendrcima mit allen seinen Ablegern ist und bleibt feine Spezialität. Bis vor zwei Jahren noch konnte sich das Theater einer auserlesenen Zahl schauspielerischer Kräfte rühmen, welche ein Ensemble vou solcher Präzision und Harmonie bildeten, daß damals keine zweite Bühne Berlin's, die Hofbühne nicht ausgeschlossen, mit dem kleinen Residenztheater rivalisiren konnte. Unter dem gegenwärtigen Leiter ist das leider anders geworden. Er hat nichts gethan, um das vortreffliche Ensemble zu erhalten, und heute sind von dem alten Stamm nur noch zwei Schauspieler übrig geblieben, welche den Theaterhabitue wehmüthig nu die alte Zeit des Glanzes erinnern. Trotzdem weiß der Leiter des Residenztheaters, dem das Utilitätsprinzip über alles geht, seine Kasse zu füllen, indem er sich das mo¬ derne Virtuosenthum zu Nutze macht. Er hat die Wohlfahrt seines Theaters ausschließlich auf das Gastspielwesen oder vielmehr -Unwesen gestellt. Nur gelingt es ihm, Gäste von stärkerer Zugkraft zu gewinnen als der Direktor des Stadttheaters. Statt, wie ein weiser Feldherr, die Kerutruppen in's Hintertreffen zu stellen und mit der Reserve erst im Falle der Noth in's Feld zu rücken, operirt er bereits mit Gästen, wenn die Theatersaison sich noch ans ihrem Höhepunkte befindet. Freilich kann er mit feinem eigenen Personal, drei oder vier Ausnahmen abgerechnet, keinen Staat machen. Es ist nur eben gut genug, den Gästen Relief zu verleihen, und zu diesem Zwecke wird es je nach Bedarf verringert oder vermehrt. An die Neubildung eines guten Ensembles ist unter solchen Umständen nicht zu denken. Der Direktor ist ein kluger Rechner, der seine Pachtfrist nach Kräften ausnutzt und im Grunde seines Herzens denkt: ^.xrös ruoi 1ö ckvIiiAS. Trotzdem hat das Residenztheater in der verflossenen Saison wenigstens einen künstlerischen Erfolg ohne Mitwirkung von zugkräftigen Gästen zu ver¬ zeichnen gehabt, und den verdankte es den „Fourchambault" von Emil Angler, die selbst in das Heiligthum unseres Abgeordnetenhauses, das sich doch sonst nicht viel um Theater-Angelegenheiten kümmert, ihren Reflex warfen. Seit dreißig, feit fünfzig Jahren ist in Frankreich kein Stück von so streng sittlichem Charakter geschaffen worden wie die „Fourchamvault", und gerade dieses Schauspiel mußte von dem Verdikte eines kurzsichtigen Exekutivbeamten ge¬ troffen werden, welcher das Stück nach seinem eigenen Zugeständnisse vor dein Verbote nicht einmal gelesen hatte, aber der durch ganz andere Ereignisse vor¬ bereiteten und hervorgerufenen Zeitströmung in seiner Art Rechnung tragen zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/156>, abgerufen am 27.09.2024.