Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.möglich ist. Selbst Männer, denen es sonst durchaus nicht an Urtheilskraft möglich ist. Selbst Männer, denen es sonst durchaus nicht an Urtheilskraft <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0158" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/142113"/> <p xml:id="ID_454" prev="#ID_453" next="#ID_455"> möglich ist. Selbst Männer, denen es sonst durchaus nicht an Urtheilskraft<lb/> gebricht, steifem sich am Ende, als alle Pfeile an dem ehernen Gefüge des<lb/> Angler'schen Meisterwerkes machtlos abprallten, darauf, daß das Unsittliche<lb/> dieses Dramas darin läge, daß die auf legitimer Grundlage aufgebaute Familie<lb/> von dem Dichter als moralisch schwach und verkommen dargestellt werde,<lb/> während alle moralischen Kräfte sich 'in dem szenischen Gegenbilde dieser<lb/> Familie, der Musiklehrerin, einer büßenden Magdalena, und ihrem unehelichen<lb/> Sohne, konzentrirten. Aber diese Sittenrichter haben dabei völlig die ideale<lb/> Absicht dieses strengen, unerbittlichen Moralisten verkannt, dem es gerade darauf<lb/> ankam, an drastischen Beispielen voller Kontraste zu zeigen, daß das in den<lb/> französischen Familien der besseren Gesellschaft übliche Erziehungssystem das<lb/> Familienleben in seinem innersten Nerv angreift und zerstört, daß die Jagd<lb/> nach dem Glück, welcher der Mann ohne Rast obliegt, und die Pflichten gesell¬<lb/> schaftlicher Repräsentation, welche die Frau auf sich nimmt, um das Firmen¬<lb/> schild des Gatten zu lackiren, den verderblichsten Einfluß auf die ohne strenge<lb/> Zucht heranwachsenden Söhne und Töchter ausüben. Er wollte zeigen, wie<lb/> auf der einen Seite alle edlen Regungen des Herzens in dem rauschenden<lb/> Strudel einer oberflächlichen, gefall- und vergnügungssüchtigen Gesellschaft er¬<lb/> stickt werden, und wie auf der andern Seite gemeinsam ertragenes Unglück<lb/> die Herzen prüft und die Charaktere stählt und wetterfest macht. Die Sünderin<lb/> büßt ihren einzigen Fehltritt durch ein langes freudloses Leben, auf dessen<lb/> Abend nur ein einziger Lichtstrahl geheimen Glückes fällt, und an ihrer Seite<lb/> büßt ihr Sohn den Fehltritt der Mutter durch ein Leben selbstloser Aufopferung<lb/> und Entsagung. Als Angler sein Drama schrieb, hatte er spezifisch französische<lb/> Verhältnisse im Auge, gegen welche er die Schärfe seines Schwertes kehren<lb/> wollte. Wenn man derartige in nationalen Eigenthümlichkeiten wurzelnde<lb/> Schauspiele auf fremden Boden überträgt, darf man sie nicht von der Um¬<lb/> gebung trennen, aus der sie erwachsen sind, darf man sie nicht auf ihren ab¬<lb/> soluten Werth prüfen, sondern man muß sie eben mit dem Maßstabe ihrer<lb/> Umgebung messen. Wenn bei uns in Deutschland Verhältnisse nicht existiren<lb/> und Situationen nicht möglich sind, wie sie Angler schildert, so hat man vollauf<lb/> Ursache, sich darüber zu freuen, aber noch lange nicht das Recht, solche Stücke<lb/> innerlich unwahr zu schelten. Auf der Suche nach ihrem allgemeinen, idealen<lb/> Werthe hat man in Deutschland häufig die literarische und ethnographische<lb/> Bedeutung der „Fourchambault" übersehen. Es ist ein unübertreffliches<lb/> Sitten- und Zeitbild, und als solches ein Meisterwerk ersten Ranges. Wenn<lb/> aber ein unverbesserlicher Idealist und Utopist nach dem Ewigen, Bleibenden<lb/> fragt, das in diesem wie in jedem Drama enthalten sein muß, um es zu einem<lb/> echten Kunstwerke zu stempeln, so schicken wir den neugierigen Frager mit</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0158]
möglich ist. Selbst Männer, denen es sonst durchaus nicht an Urtheilskraft
gebricht, steifem sich am Ende, als alle Pfeile an dem ehernen Gefüge des
Angler'schen Meisterwerkes machtlos abprallten, darauf, daß das Unsittliche
dieses Dramas darin läge, daß die auf legitimer Grundlage aufgebaute Familie
von dem Dichter als moralisch schwach und verkommen dargestellt werde,
während alle moralischen Kräfte sich 'in dem szenischen Gegenbilde dieser
Familie, der Musiklehrerin, einer büßenden Magdalena, und ihrem unehelichen
Sohne, konzentrirten. Aber diese Sittenrichter haben dabei völlig die ideale
Absicht dieses strengen, unerbittlichen Moralisten verkannt, dem es gerade darauf
ankam, an drastischen Beispielen voller Kontraste zu zeigen, daß das in den
französischen Familien der besseren Gesellschaft übliche Erziehungssystem das
Familienleben in seinem innersten Nerv angreift und zerstört, daß die Jagd
nach dem Glück, welcher der Mann ohne Rast obliegt, und die Pflichten gesell¬
schaftlicher Repräsentation, welche die Frau auf sich nimmt, um das Firmen¬
schild des Gatten zu lackiren, den verderblichsten Einfluß auf die ohne strenge
Zucht heranwachsenden Söhne und Töchter ausüben. Er wollte zeigen, wie
auf der einen Seite alle edlen Regungen des Herzens in dem rauschenden
Strudel einer oberflächlichen, gefall- und vergnügungssüchtigen Gesellschaft er¬
stickt werden, und wie auf der andern Seite gemeinsam ertragenes Unglück
die Herzen prüft und die Charaktere stählt und wetterfest macht. Die Sünderin
büßt ihren einzigen Fehltritt durch ein langes freudloses Leben, auf dessen
Abend nur ein einziger Lichtstrahl geheimen Glückes fällt, und an ihrer Seite
büßt ihr Sohn den Fehltritt der Mutter durch ein Leben selbstloser Aufopferung
und Entsagung. Als Angler sein Drama schrieb, hatte er spezifisch französische
Verhältnisse im Auge, gegen welche er die Schärfe seines Schwertes kehren
wollte. Wenn man derartige in nationalen Eigenthümlichkeiten wurzelnde
Schauspiele auf fremden Boden überträgt, darf man sie nicht von der Um¬
gebung trennen, aus der sie erwachsen sind, darf man sie nicht auf ihren ab¬
soluten Werth prüfen, sondern man muß sie eben mit dem Maßstabe ihrer
Umgebung messen. Wenn bei uns in Deutschland Verhältnisse nicht existiren
und Situationen nicht möglich sind, wie sie Angler schildert, so hat man vollauf
Ursache, sich darüber zu freuen, aber noch lange nicht das Recht, solche Stücke
innerlich unwahr zu schelten. Auf der Suche nach ihrem allgemeinen, idealen
Werthe hat man in Deutschland häufig die literarische und ethnographische
Bedeutung der „Fourchambault" übersehen. Es ist ein unübertreffliches
Sitten- und Zeitbild, und als solches ein Meisterwerk ersten Ranges. Wenn
aber ein unverbesserlicher Idealist und Utopist nach dem Ewigen, Bleibenden
fragt, das in diesem wie in jedem Drama enthalten sein muß, um es zu einem
echten Kunstwerke zu stempeln, so schicken wir den neugierigen Frager mit
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