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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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Gemahlin betrachtet, auch ein Altar der Alkmene und des Jolaos, der ein
Geführte des Herakles bei vielen seiner Thaten war."

Das Kynosarges war der Versammlungsort derjenigen Einwohner von
Athen, welche nicht das volle Bürgerrecht der Stadt besaßen, entweder weil
beide Eltern nicht ätherischer Abkunft waren, oder weil der Mangel legitimer
Geburt oder frühere Sklaverei sie am Vollgenusse der bürgerlichen Ehren
hinderte. Zum Schutzpatron hatte diese Klasse der Gesellschaft den Herakles
sich erwählt, den ruhmgekrönten Heros, dessen glorreiche Thaten durch den
Makel seiner illegitimen Herkunft nicht verdunkelt werden konnten. Aber weder
der Ort, noch die dort verkehrende Gesellschaft wurde von den vornehmen
Athenern mißachtet oder gemieden. Sokrates, selbst ein erbgesessener Bürger,
kam oftmals in das Kynosarges, lehrend und zuhörend, und von Themistokles
wird berichtet, daß er die ätherische Elitejugend zu gymnastischen Uebungen
dorthin führte. Das Kynosarges hat aber auch eine historische Berühmtheit in
den Perserkriegen erlangt; es bildete den Punkt, wo sich die Athener nach dem
Siege von Marathon zur Vertheidigung der Stadt aufstellten, auf das Gerücht
hin, daß die Perserflotte von der marathouischen Küste nach Phaleron zu segle.
Vor plötzlichem Augriffe des Feindes konnte die Athener nämlich keine Position
besser schützen als die Höhen des Lykabettos, von denen aus sie die Straße
nach Phaleron am besten übersehen konnten.

Dieses östliche Gymnasion Athen's war die Pflanzstätte einer Philosophie,
deren straffe Disziplin und harte Moral den großen Zweck hatte, den Charakter
des Menschen dadurch zu bilden, daß der Wille frei gemacht werde. Die
Freiheit eines Jeden geht soweit wie seine Thätigkeit und sein Muth, und nur
durch die Freiheit erhält das Individuum für sich und Andere Bedeutung und
Werth: von dieser Grundwahrheit ausgehend fanden die Lehrer des Kynosarges,
die Begründer der lyrischen Philosophie, den Begriff des Charakters nur in
der auf innerlich festgewordenen Formen gegründeten Stetigkeit in Werden
und Sein. Platon und Aristoteles wollten die Menschen bilden, die Kyniker
wollten sie erziehen durch die am Zwecke sich ausgleichenden Gegensätze des
Bedürfens und des Könnens. Die eminent politische Bedeutung der lyrischen
Lehren ist von den Alten nie unterschützt worden, und das logische Wissen des
Aristoteles ist ja ohne Zweifel dem durch die Kyniker gebildeten praktischen
Gewissen bei Erziehung freier Staatsbürger mindestens ebenbürtig. Wissen
und Gewissen machen den Juristen, war der Wahlspruch eines alten Rechts¬
lehrers im sechzehnten Jahrhundert. Aber nicht blos den Juristen macht diese
Vereinigung aus, sondern einen Jeden, auf den das Vaterland bei Berathung
und Gestaltung seiner heiligsten Interessen sicher zu zählen berechtigt sein
soll. Und so will es gerade für unsere Tage politischer Haltlosigkeit geboten


Gemahlin betrachtet, auch ein Altar der Alkmene und des Jolaos, der ein
Geführte des Herakles bei vielen seiner Thaten war."

Das Kynosarges war der Versammlungsort derjenigen Einwohner von
Athen, welche nicht das volle Bürgerrecht der Stadt besaßen, entweder weil
beide Eltern nicht ätherischer Abkunft waren, oder weil der Mangel legitimer
Geburt oder frühere Sklaverei sie am Vollgenusse der bürgerlichen Ehren
hinderte. Zum Schutzpatron hatte diese Klasse der Gesellschaft den Herakles
sich erwählt, den ruhmgekrönten Heros, dessen glorreiche Thaten durch den
Makel seiner illegitimen Herkunft nicht verdunkelt werden konnten. Aber weder
der Ort, noch die dort verkehrende Gesellschaft wurde von den vornehmen
Athenern mißachtet oder gemieden. Sokrates, selbst ein erbgesessener Bürger,
kam oftmals in das Kynosarges, lehrend und zuhörend, und von Themistokles
wird berichtet, daß er die ätherische Elitejugend zu gymnastischen Uebungen
dorthin führte. Das Kynosarges hat aber auch eine historische Berühmtheit in
den Perserkriegen erlangt; es bildete den Punkt, wo sich die Athener nach dem
Siege von Marathon zur Vertheidigung der Stadt aufstellten, auf das Gerücht
hin, daß die Perserflotte von der marathouischen Küste nach Phaleron zu segle.
Vor plötzlichem Augriffe des Feindes konnte die Athener nämlich keine Position
besser schützen als die Höhen des Lykabettos, von denen aus sie die Straße
nach Phaleron am besten übersehen konnten.

Dieses östliche Gymnasion Athen's war die Pflanzstätte einer Philosophie,
deren straffe Disziplin und harte Moral den großen Zweck hatte, den Charakter
des Menschen dadurch zu bilden, daß der Wille frei gemacht werde. Die
Freiheit eines Jeden geht soweit wie seine Thätigkeit und sein Muth, und nur
durch die Freiheit erhält das Individuum für sich und Andere Bedeutung und
Werth: von dieser Grundwahrheit ausgehend fanden die Lehrer des Kynosarges,
die Begründer der lyrischen Philosophie, den Begriff des Charakters nur in
der auf innerlich festgewordenen Formen gegründeten Stetigkeit in Werden
und Sein. Platon und Aristoteles wollten die Menschen bilden, die Kyniker
wollten sie erziehen durch die am Zwecke sich ausgleichenden Gegensätze des
Bedürfens und des Könnens. Die eminent politische Bedeutung der lyrischen
Lehren ist von den Alten nie unterschützt worden, und das logische Wissen des
Aristoteles ist ja ohne Zweifel dem durch die Kyniker gebildeten praktischen
Gewissen bei Erziehung freier Staatsbürger mindestens ebenbürtig. Wissen
und Gewissen machen den Juristen, war der Wahlspruch eines alten Rechts¬
lehrers im sechzehnten Jahrhundert. Aber nicht blos den Juristen macht diese
Vereinigung aus, sondern einen Jeden, auf den das Vaterland bei Berathung
und Gestaltung seiner heiligsten Interessen sicher zu zählen berechtigt sein
soll. Und so will es gerade für unsere Tage politischer Haltlosigkeit geboten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/91>, abgerufen am 25.07.2024.