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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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erscheinen, auf jene alte Philosophenschule zurückzukommen, welche vor allen
Dingen Gerechtigkeit lehrte, das heißt die Schätzung einer jeden Sache nach
ihrer Beschaffenheit, Stellung und Bestimmung, nach dem, was sie nach dem
Weltgesetz und in der Weltordnung ausfüllen soll.

Der Begründer der von ihrem Versammlungsorte, dem Kynosarges, später
aber wohl mit ironischem Doppelsinne wegen ihrer weltverachtenden Bedürf-
nißlosigkeit und Entsagung sogenannten lyrischen Philosophie war Antisthenes,
ein Schüler des Gorgias, später des Sokrates. Letzterer ehrte ihn durch den
Ausspruch, kein Athener sei edler, als dieser sein Schüler, und fertigte Jemanden,
der dem Antisthenes vorwarf, daß er von einer thrakischen Mutter geboren sei,
mit der Frage ab: "Glaubst du wohl, daß zwei erbgesessene Athener solch'
einen tüchtigen Kerl würden zu Stande gebracht haben?" Antisthenes selbst
wies den Vorwurf, nicht von freigeborenen Eltern abzustammen, mit der Ent¬
gegnung zurück: "Ich bin nicht von zwei Ringkämpfern erzeugt und doch ein
Ringkämpfer."

Athen zählte zu Antipater's Zeiten 12000 Arme und nur 9000 Ein¬
wohner, von denen jeder 2000 Drachmen besaß. Aus der Zahl der Ersteren
suchte Antisthenes seine Schüler zu gewinnen, um das Proletariat zu einer
höheren und freieren Weltanschauung zu erziehen. Zu diesem Zwecke war er
bemüht, seine Schüler ihre Armuth liebgewinnen zu lehren. Sie sollten nicht
blos lernen, mit Gleichmuth zu entbehren und zu entsagen, sondern sie sollten
die Reichthümer als die hauptsächlichsten und gefährlichsten Sittenverderber
verachten und fliehen. Er ging davon aus, daß das Wesen der Gottheit in
Selbstgenügen und Bedürfnißlosigkeit bestehe, und lehrte durch sein eigenes,
schönes und kräftiges Beispiel die Süßigkeit soldatischer Entbehrung, durch
welche ein braver und tüchtiger Mann sich zur Gottähnlichkeit emporarbeiten
könne. Er lehrte, wie uns Epiktet berichtet, daß nichts unser wahres Eigen¬
thum sei, als was uns die Götter als unentreißbares Gut verliehen hätten:
unsere Vernunft und unsere Phantasie, und daß nur dasjenige vernünftig und
deshalb dauernd sei, was ist und war. Die Tugend allein, zu deren Erlan¬
gung es nur sokratischer Seelenkraft bedürfe, mache glücklich, und nur ein
Tugendhafter sei ein Freier. Die Zahl der Anhänger seiner herben Lehre war
eine sehr geringe, und der Meister starb nach langer und schwerer Krankheit
ohne die tröstliche Aussicht, seiner Philosophie große Theilnahme und Verbrei¬
tung gesichert zu sehen. Als ihn Diogenes, sein Schüler, in der letzten Krank¬
heit besuchte und dem Schwerleidenden auf dessen Frage: "Wer wird mich
von den Schmerzen befreien?" statt aller Antwort einen Dolch reichte, gab ihm
Antisthenes den letzteren mit den Worten zurück: "Ich sagte von den
Schmerzen, nicht von dem Leben." Sein Grab wurde ihm in einem der schad-


erscheinen, auf jene alte Philosophenschule zurückzukommen, welche vor allen
Dingen Gerechtigkeit lehrte, das heißt die Schätzung einer jeden Sache nach
ihrer Beschaffenheit, Stellung und Bestimmung, nach dem, was sie nach dem
Weltgesetz und in der Weltordnung ausfüllen soll.

Der Begründer der von ihrem Versammlungsorte, dem Kynosarges, später
aber wohl mit ironischem Doppelsinne wegen ihrer weltverachtenden Bedürf-
nißlosigkeit und Entsagung sogenannten lyrischen Philosophie war Antisthenes,
ein Schüler des Gorgias, später des Sokrates. Letzterer ehrte ihn durch den
Ausspruch, kein Athener sei edler, als dieser sein Schüler, und fertigte Jemanden,
der dem Antisthenes vorwarf, daß er von einer thrakischen Mutter geboren sei,
mit der Frage ab: „Glaubst du wohl, daß zwei erbgesessene Athener solch'
einen tüchtigen Kerl würden zu Stande gebracht haben?" Antisthenes selbst
wies den Vorwurf, nicht von freigeborenen Eltern abzustammen, mit der Ent¬
gegnung zurück: „Ich bin nicht von zwei Ringkämpfern erzeugt und doch ein
Ringkämpfer."

Athen zählte zu Antipater's Zeiten 12000 Arme und nur 9000 Ein¬
wohner, von denen jeder 2000 Drachmen besaß. Aus der Zahl der Ersteren
suchte Antisthenes seine Schüler zu gewinnen, um das Proletariat zu einer
höheren und freieren Weltanschauung zu erziehen. Zu diesem Zwecke war er
bemüht, seine Schüler ihre Armuth liebgewinnen zu lehren. Sie sollten nicht
blos lernen, mit Gleichmuth zu entbehren und zu entsagen, sondern sie sollten
die Reichthümer als die hauptsächlichsten und gefährlichsten Sittenverderber
verachten und fliehen. Er ging davon aus, daß das Wesen der Gottheit in
Selbstgenügen und Bedürfnißlosigkeit bestehe, und lehrte durch sein eigenes,
schönes und kräftiges Beispiel die Süßigkeit soldatischer Entbehrung, durch
welche ein braver und tüchtiger Mann sich zur Gottähnlichkeit emporarbeiten
könne. Er lehrte, wie uns Epiktet berichtet, daß nichts unser wahres Eigen¬
thum sei, als was uns die Götter als unentreißbares Gut verliehen hätten:
unsere Vernunft und unsere Phantasie, und daß nur dasjenige vernünftig und
deshalb dauernd sei, was ist und war. Die Tugend allein, zu deren Erlan¬
gung es nur sokratischer Seelenkraft bedürfe, mache glücklich, und nur ein
Tugendhafter sei ein Freier. Die Zahl der Anhänger seiner herben Lehre war
eine sehr geringe, und der Meister starb nach langer und schwerer Krankheit
ohne die tröstliche Aussicht, seiner Philosophie große Theilnahme und Verbrei¬
tung gesichert zu sehen. Als ihn Diogenes, sein Schüler, in der letzten Krank¬
heit besuchte und dem Schwerleidenden auf dessen Frage: „Wer wird mich
von den Schmerzen befreien?" statt aller Antwort einen Dolch reichte, gab ihm
Antisthenes den letzteren mit den Worten zurück: „Ich sagte von den
Schmerzen, nicht von dem Leben." Sein Grab wurde ihm in einem der schad-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/92>, abgerufen am 25.07.2024.