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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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stand seit 1863, den die großrussischen Revolutionäre unterstützten, reizte die
Regierung zu den härtesten Maßregeln auch gegen sie (während zugleich das
aufwogende russische Nationalgefühl ihnen jede moralische Unterstützung entzog,
und ihr Organ, Herzen's "Kökökök", plötzlich jeden Einfluß verlor); einer ihrer
Hauptführer, Tschernischew, wurde zu Zwangsarbeit verurtheilt. Freilich be¬
wies das Attentat Karakosow's auf Kaiser Alexander (4. April 1866) sehr
deutlich das Fortleben der revolutionären Gedanken.

Parallel mit dieser weitverzweigten Bewegung in den großrussischen Lan¬
destheilen traten in Kleinrußland schon seit den dreißiger Jahren die Anfänge
einer nationalen Opposition gegen den czarischen Despotismus hervor. In
glühenden Versen verfocht der hochbegabte Dichter Schewtscheuko, welchen
Herzen den "einzigen volksthümlichen Dichter" nannte, mit den Waffen der
Wissenschaft der Historiker Kvstomarow das Recht des südrussischen Volksthums.
"Der Protest Kleinrußland's gegen seine Unfreiheit fand seinen kosakischen
Rhapsoden, der in wunderbaren Versen der Welt alle die ererbten Gedanken
seines Heimatlandes schilderte, alle Ursachen seiner Leiden, die aus seiner poli¬
tischen, sozialen und religiösen Unfreiheit hervorgingen." ... "Hand in Hand mit
dem Rhapsoden ging der Historiker Klein - Rußland's Kastomarow. Schon in
seiner ersten Arbeit zeigte er sich so scharf, daß der Petersburger General-
Historiker Ußtrjalow es für nöthig hielt, eine Anklage gegen den "kühnen"
Lehrer der Charkower Universität aufzusetzen, der sich erdreistet hatte, ein eigenes
Urtheil zu haben und die durch Karamsin zu katechismusgleicher Geltung
gekommene Auffassung der russischen Geschichte über den Haufen zu werfen.
Er fühlte heraus, daß von dem kosakischen Historiker nichts Gutes für das
Czarenthum kommen werde, und er täuschte sich nicht. Kvstomarow beschäftigte
sich mit der Bearbeitung der inneren Geschichte unserer Völker." Eine "Kyrill-
Method'sche Brüderschaft" entstand, und in eben diesen Kreisen tauchte der
Gedanke der gesammt-slavischen Föderation, des Pauslavis-mus, zuerst innerhalb
Rußland's leibhaftig empor. Doch Nikolaj verbannte den Historiker und steckte
den unglücklichen Dichter als gemeinen Soldaten unter das Militär, bis er
als körperlich und geistig gebrochener Mensch unschädlich erschien.

Aber auch Alexander II. schickte 1860 bereits Studenten, die zu dem Char¬
kower Kreise gehört hatten, in die Verbannung, dann wieder 1862 eine An¬
zahl "Aufwiegler" von Poltawa und Charkow. Und als nun vollends der
Polnische Aufstand ausbrach, da.fiel die Hand der Regierung auch auf die
Kleinrussen schwer hernieder: sie verbot kurzweg den Druck populärer Bücher
in kleinrussischer Sprache, ja sogar den Gebrauch derselben in den Schulen.
"Zur selben Zeit schlug sich Polen mit dem russischen Heere und strengte sich
an, sich aus dem czarischen Zuchthause zu befreien, wozu es das volle Recht


stand seit 1863, den die großrussischen Revolutionäre unterstützten, reizte die
Regierung zu den härtesten Maßregeln auch gegen sie (während zugleich das
aufwogende russische Nationalgefühl ihnen jede moralische Unterstützung entzog,
und ihr Organ, Herzen's „Kökökök", plötzlich jeden Einfluß verlor); einer ihrer
Hauptführer, Tschernischew, wurde zu Zwangsarbeit verurtheilt. Freilich be¬
wies das Attentat Karakosow's auf Kaiser Alexander (4. April 1866) sehr
deutlich das Fortleben der revolutionären Gedanken.

Parallel mit dieser weitverzweigten Bewegung in den großrussischen Lan¬
destheilen traten in Kleinrußland schon seit den dreißiger Jahren die Anfänge
einer nationalen Opposition gegen den czarischen Despotismus hervor. In
glühenden Versen verfocht der hochbegabte Dichter Schewtscheuko, welchen
Herzen den „einzigen volksthümlichen Dichter" nannte, mit den Waffen der
Wissenschaft der Historiker Kvstomarow das Recht des südrussischen Volksthums.
„Der Protest Kleinrußland's gegen seine Unfreiheit fand seinen kosakischen
Rhapsoden, der in wunderbaren Versen der Welt alle die ererbten Gedanken
seines Heimatlandes schilderte, alle Ursachen seiner Leiden, die aus seiner poli¬
tischen, sozialen und religiösen Unfreiheit hervorgingen." ... „Hand in Hand mit
dem Rhapsoden ging der Historiker Klein - Rußland's Kastomarow. Schon in
seiner ersten Arbeit zeigte er sich so scharf, daß der Petersburger General-
Historiker Ußtrjalow es für nöthig hielt, eine Anklage gegen den „kühnen"
Lehrer der Charkower Universität aufzusetzen, der sich erdreistet hatte, ein eigenes
Urtheil zu haben und die durch Karamsin zu katechismusgleicher Geltung
gekommene Auffassung der russischen Geschichte über den Haufen zu werfen.
Er fühlte heraus, daß von dem kosakischen Historiker nichts Gutes für das
Czarenthum kommen werde, und er täuschte sich nicht. Kvstomarow beschäftigte
sich mit der Bearbeitung der inneren Geschichte unserer Völker." Eine „Kyrill-
Method'sche Brüderschaft" entstand, und in eben diesen Kreisen tauchte der
Gedanke der gesammt-slavischen Föderation, des Pauslavis-mus, zuerst innerhalb
Rußland's leibhaftig empor. Doch Nikolaj verbannte den Historiker und steckte
den unglücklichen Dichter als gemeinen Soldaten unter das Militär, bis er
als körperlich und geistig gebrochener Mensch unschädlich erschien.

Aber auch Alexander II. schickte 1860 bereits Studenten, die zu dem Char¬
kower Kreise gehört hatten, in die Verbannung, dann wieder 1862 eine An¬
zahl „Aufwiegler" von Poltawa und Charkow. Und als nun vollends der
Polnische Aufstand ausbrach, da.fiel die Hand der Regierung auch auf die
Kleinrussen schwer hernieder: sie verbot kurzweg den Druck populärer Bücher
in kleinrussischer Sprache, ja sogar den Gebrauch derselben in den Schulen.
„Zur selben Zeit schlug sich Polen mit dem russischen Heere und strengte sich
an, sich aus dem czarischen Zuchthause zu befreien, wozu es das volle Recht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/489>, abgerufen am 23.07.2024.