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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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lich, weil über ihnen der russische Polizeisoldat steht. Verschwindet dieser, dann
werden alle diese Völker auf sich selber gestellt sein. In welchen Dingen und
wie sie sich mit einander verbrüdern werden, das kann nur die Praxis zeigen."

Für eine solche Geschichtsauffassung ist natürlich nicht nur die Begrün¬
dung eines großrussischen Reiches überhaupt ein Unglück, sondern auch alle Reform¬
versuche seit Iwan IV. erscheinen ihr als vollkommen unfruchtbar, weil sie von
jeder Berücksichtigung und Pflege des eigentlich Volksthümlichen absahen, und
weil vor dem czarischen Despotismus nicht einmal die Bojaren geschützt waren,
geschweige denn die Massen der unteren Stände. Doch auf politischem Ge¬
biete namentlich hielt dieser Despotismus jede abweichende Richtung nieder.
Erst als sich gegenüber dem offiziellen Rußland das "Rußland der geistigen
Bewegung", die "Rossija umßtwenncigo dwischeuja", entwickelte, ward dem gro߬
russischen Absolutismus auf seinem eigenen Gebiete die Schlacht angeboten, die
seitdem mit steigender Heftigkeit bis zur Gegenwart dauert.

Die französische Revolution fand in Rußland ihren Nachhall in den Be¬
strebungen der Dekabristen, der Dezemberverschworenen gegen die Thronbestei¬
gung Czar Nikolaj's I. im Jahre 1825. Sie forderten die Anerkennung der
"Menschenrechte", die Befreiung der Bauern, eine Konstitution, in ihren extre¬
meren Vertretern sogar die Republik. Obwohl mit leichter Mühe der Kaiser
die Revolution zu Boden warf, ihre Führer verbannte oder hinrichten ließ --
die Ideen der Dekabristen rottete er damit nicht aus, vielmehr gelangten sie in
immer weiteren Kreisen zur Anerkennung, entsprechend dem Fortschreiten ver¬
wandter Gedanken im Westen Europa's, wo zur selben Zeit die liberalen Par¬
teien in lebhaftestem Angriff die absolutistischen Prinzipien der Regierungen
bekämpften. Die Reformen Nikolaj's I., dieses "kaiserlichen Wachtmeisters",
dieses "stumpfsinnigen und erbarmungslosen" Herrschers, konnten jene Bewe¬
gung umsoweniger zum Stillstande bringen, als sie sich auf Aeußerlichkeiten,
wie Errichtung von Militärkolonieen, Bildung eines besonderen Ministeriums
der kaiserlichen Domänen u. a. beschränkten. Der Krimkrieg zeigte die ganze
Hohlheit dieser Größe, die UnHaltbarkeit des bisherigen Systems.

Alexander II. versprach und begann Reformen. Er verfügte die Aufhe¬
bung der Leibeigenschaft (1861), er gestattete der Presse freiere Bewegung. Sie
benutzte sie unter Führung von Männern wie Tschernischew, Herzen, Ogarew
auf der Stelle zu energischen Angriffen auf den czarischen Despotismus, sie
gewann auch auf die Jugend der gebildeten Stände rasch großen Einfluß, und
schon Ende der fünfziger Jahre bildeten sich in Petersburg, Moskau, Kasan
Gesellschaften von "Propagandisten", die die volle Durchführung der Aufhebung
der Leibeigenschaft erstrebten und deshalb den Ruf "Land und Freiheit"
("Semlja i Wolja") zu ihrem Feldgeschrei machten. Doch der polnische Auf-


lich, weil über ihnen der russische Polizeisoldat steht. Verschwindet dieser, dann
werden alle diese Völker auf sich selber gestellt sein. In welchen Dingen und
wie sie sich mit einander verbrüdern werden, das kann nur die Praxis zeigen."

Für eine solche Geschichtsauffassung ist natürlich nicht nur die Begrün¬
dung eines großrussischen Reiches überhaupt ein Unglück, sondern auch alle Reform¬
versuche seit Iwan IV. erscheinen ihr als vollkommen unfruchtbar, weil sie von
jeder Berücksichtigung und Pflege des eigentlich Volksthümlichen absahen, und
weil vor dem czarischen Despotismus nicht einmal die Bojaren geschützt waren,
geschweige denn die Massen der unteren Stände. Doch auf politischem Ge¬
biete namentlich hielt dieser Despotismus jede abweichende Richtung nieder.
Erst als sich gegenüber dem offiziellen Rußland das „Rußland der geistigen
Bewegung", die „Rossija umßtwenncigo dwischeuja", entwickelte, ward dem gro߬
russischen Absolutismus auf seinem eigenen Gebiete die Schlacht angeboten, die
seitdem mit steigender Heftigkeit bis zur Gegenwart dauert.

Die französische Revolution fand in Rußland ihren Nachhall in den Be¬
strebungen der Dekabristen, der Dezemberverschworenen gegen die Thronbestei¬
gung Czar Nikolaj's I. im Jahre 1825. Sie forderten die Anerkennung der
„Menschenrechte", die Befreiung der Bauern, eine Konstitution, in ihren extre¬
meren Vertretern sogar die Republik. Obwohl mit leichter Mühe der Kaiser
die Revolution zu Boden warf, ihre Führer verbannte oder hinrichten ließ —
die Ideen der Dekabristen rottete er damit nicht aus, vielmehr gelangten sie in
immer weiteren Kreisen zur Anerkennung, entsprechend dem Fortschreiten ver¬
wandter Gedanken im Westen Europa's, wo zur selben Zeit die liberalen Par¬
teien in lebhaftestem Angriff die absolutistischen Prinzipien der Regierungen
bekämpften. Die Reformen Nikolaj's I., dieses „kaiserlichen Wachtmeisters",
dieses „stumpfsinnigen und erbarmungslosen" Herrschers, konnten jene Bewe¬
gung umsoweniger zum Stillstande bringen, als sie sich auf Aeußerlichkeiten,
wie Errichtung von Militärkolonieen, Bildung eines besonderen Ministeriums
der kaiserlichen Domänen u. a. beschränkten. Der Krimkrieg zeigte die ganze
Hohlheit dieser Größe, die UnHaltbarkeit des bisherigen Systems.

Alexander II. versprach und begann Reformen. Er verfügte die Aufhe¬
bung der Leibeigenschaft (1861), er gestattete der Presse freiere Bewegung. Sie
benutzte sie unter Führung von Männern wie Tschernischew, Herzen, Ogarew
auf der Stelle zu energischen Angriffen auf den czarischen Despotismus, sie
gewann auch auf die Jugend der gebildeten Stände rasch großen Einfluß, und
schon Ende der fünfziger Jahre bildeten sich in Petersburg, Moskau, Kasan
Gesellschaften von „Propagandisten", die die volle Durchführung der Aufhebung
der Leibeigenschaft erstrebten und deshalb den Ruf „Land und Freiheit"
(„Semlja i Wolja") zu ihrem Feldgeschrei machten. Doch der polnische Auf-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/488>, abgerufen am 23.07.2024.