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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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des Nihilismus im Süden des Reiches weist ein offenbar dem südrussischen
Volksstamme angehöriger Nihilist, Nikolaj Shukowskij, hin, in einem längeren
Aufsatze des bekannten Genfer Nihilistenorganes, der "Obschtschina", der die
Entwickelung des Nihilismus überhaupt behandelt. Da die einzelnen Züge,
welche den Antheil des kleinrussischen Stammesbewußtseins an diesem Prozeß
charakterisiren, ohne den Zusammenhang des Ganzen nicht wohl verständlich
scheinen, und es ohne Zweifel auch von einigem Interesse ist, einmal einen
Anhänger der unheimlichen Sekte über deren Geschichte zu hören, so einseitig
seine Auffassung auch sein mag, und so wenig Unbekanntes er im Allgemeinen
vielleicht beibringt, so soll im Folgenden zum größten Theil auszugsweise, nur
in besonders charakteristischen Stellen in wörtlicher Uebersetzung, seine Ausein¬
andersetzung mitgetheilt werden. Einige kurze Erläuterungen werden hie und da
nicht zu umgehen sein.

Gleich im Eingange tritt der allem Großrussischen feindselige Standpunkt
Shukowskij's scharf hervor, indem er gegen die traditionelle Auffassung der
russischen Geschichte, wie sie seit Karamsin das allgemeine Urtheil beherrscht,
heftig polemisirt. Seit Karamsin's Vorgange, führt er aus, läßt man die
eigentliche Reichsgeschichte von Peter dem Großen an beginnen und betrachtet
die Gründung des russischen Reiches von Moskau aus und namentlich seine
Umbildung durch Peter I. als ein heilvolles und natürliches Ereigniß. Nach
und nach hat sich jedoch eine andere, der älteren geradezu entgegengesetzte An¬
sicht Bahn gebrochen, welche die selbständige Kulturentwickelung einzelner Theile
Rußland's, wie sie längst vor der Begründung der moskowitischen Herrschaft
in Nowgorod, in Weiß- und Kleinrußland und namentlich in dem eigenthüm¬
lichen Gemeinwesen der zaporogischen Kosaken hervortrat, betont und in der
Ausbreitung der moskowitischen Eroberung über jene Stämme und Staaten
ein wesentlich zerstörendes Element erkennt. An einer anderen Stelle führt der
Verfasser eine Reihe von Zahlen in's Feld, welche die außerordentlich bunte
Zusammensetzung der Bevölkerung des russischen Reiches beweisen und die Exi¬
stenz eines gesammt-russischen Volkes überhaupt negiren sollen. Neben 36
Millionen Großrussen stehen nach ihm 14,239000 Kleinrussen, 4 Millionen
Weißrussen, gar nicht gerechnet die 4,750000 Polen, die ja auch Niemand zum
eigentlichen russischen "Volke" zählen wird. "Jedes dieser Völker," fährt er fort,
"hat sein eigenthümliches Wesen; jedes muß folglich nicht nur das Recht.seiner
äußeren Selbständigkeit behaupten, sondern alle müssen das Recht der Verbrü¬
derung behaupten, wie sie durch ihre selbständige Initiative zu Stande kommen
kann. Der Moskowiter, der Pole, der Ukrainer, der Sibirier, sie stehen zu
einander nicht wie Herrscher, sondern wie Genossen. Jetzt leben sie alle unter
der Hegemonie der Großrussen und heißen das russische Volk, deshalb nennend-


des Nihilismus im Süden des Reiches weist ein offenbar dem südrussischen
Volksstamme angehöriger Nihilist, Nikolaj Shukowskij, hin, in einem längeren
Aufsatze des bekannten Genfer Nihilistenorganes, der „Obschtschina", der die
Entwickelung des Nihilismus überhaupt behandelt. Da die einzelnen Züge,
welche den Antheil des kleinrussischen Stammesbewußtseins an diesem Prozeß
charakterisiren, ohne den Zusammenhang des Ganzen nicht wohl verständlich
scheinen, und es ohne Zweifel auch von einigem Interesse ist, einmal einen
Anhänger der unheimlichen Sekte über deren Geschichte zu hören, so einseitig
seine Auffassung auch sein mag, und so wenig Unbekanntes er im Allgemeinen
vielleicht beibringt, so soll im Folgenden zum größten Theil auszugsweise, nur
in besonders charakteristischen Stellen in wörtlicher Uebersetzung, seine Ausein¬
andersetzung mitgetheilt werden. Einige kurze Erläuterungen werden hie und da
nicht zu umgehen sein.

Gleich im Eingange tritt der allem Großrussischen feindselige Standpunkt
Shukowskij's scharf hervor, indem er gegen die traditionelle Auffassung der
russischen Geschichte, wie sie seit Karamsin das allgemeine Urtheil beherrscht,
heftig polemisirt. Seit Karamsin's Vorgange, führt er aus, läßt man die
eigentliche Reichsgeschichte von Peter dem Großen an beginnen und betrachtet
die Gründung des russischen Reiches von Moskau aus und namentlich seine
Umbildung durch Peter I. als ein heilvolles und natürliches Ereigniß. Nach
und nach hat sich jedoch eine andere, der älteren geradezu entgegengesetzte An¬
sicht Bahn gebrochen, welche die selbständige Kulturentwickelung einzelner Theile
Rußland's, wie sie längst vor der Begründung der moskowitischen Herrschaft
in Nowgorod, in Weiß- und Kleinrußland und namentlich in dem eigenthüm¬
lichen Gemeinwesen der zaporogischen Kosaken hervortrat, betont und in der
Ausbreitung der moskowitischen Eroberung über jene Stämme und Staaten
ein wesentlich zerstörendes Element erkennt. An einer anderen Stelle führt der
Verfasser eine Reihe von Zahlen in's Feld, welche die außerordentlich bunte
Zusammensetzung der Bevölkerung des russischen Reiches beweisen und die Exi¬
stenz eines gesammt-russischen Volkes überhaupt negiren sollen. Neben 36
Millionen Großrussen stehen nach ihm 14,239000 Kleinrussen, 4 Millionen
Weißrussen, gar nicht gerechnet die 4,750000 Polen, die ja auch Niemand zum
eigentlichen russischen „Volke" zählen wird. „Jedes dieser Völker," fährt er fort,
„hat sein eigenthümliches Wesen; jedes muß folglich nicht nur das Recht.seiner
äußeren Selbständigkeit behaupten, sondern alle müssen das Recht der Verbrü¬
derung behaupten, wie sie durch ihre selbständige Initiative zu Stande kommen
kann. Der Moskowiter, der Pole, der Ukrainer, der Sibirier, sie stehen zu
einander nicht wie Herrscher, sondern wie Genossen. Jetzt leben sie alle unter
der Hegemonie der Großrussen und heißen das russische Volk, deshalb nennend-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/487>, abgerufen am 03.07.2024.