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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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Körperschaft, in welcher durch die Macht der Theilnahme ein den größten Ent¬
scheidungen dem Einzelnen der Anlaß zum Mißbräuche und zur Leidenschaft
nahegelegt ist, jene Ziele durch blos moralische Mittel sichern kann, so wird
man die Frage sofort verneinen müssen. Daraus folgt die Nothwendigkeit
einer Erweiterung des parlamentarischen Privilegiums, nämlich auf den Ge¬
brauch anderer als blos moralischer Mittel zum Schutze der Würde des Par¬
lamentes. Eine solche Erweiterung ist aber Sache des Gesetzes und an:
korrektesten Sache der Verfassungsbestimmung. Demnach hätte die Regierung
einen Artikel 27d vorschlagen sollen: "Der Reichstag hat das Recht, Mitglieder,
die sich gegen seine Würde vergehen, für einen Theil oder bis zum Schlüsse
der Legislaturperiode auszuschließen. Der Wahlkreis des betroffenen Abge¬
ordneten kann eine Neuwahl verlangen. Im Falle der Wiederwahl des aus¬
geschlossenen Abgeordneten verzichtet der Wahlkreis für die Dauer der Aus¬
schließung auf seine Vertretung. Der Reichstag kann das Mandat eines
Abgeordneten kassiren, die Wiederwahl des betroffenen Abgeordneten wird
dadurch in jedem Wahlkreise für alle künftigen Wahlen ungiltig, fo lauge die
Kasstrung nicht durch einen neuen Reichstagsbeschluß aufgehoben worden."

Hätte die Reichsregierung einen solchen Verfassungsartikel vorgeschlagen,
so hätte sie die Frage eines großen Prinzipes korrekt gestellt, dessen richtige
Lösung zu verfechten sie in die beneidenswerthe Lage gekommen wäre. Es
wäre eine werthvolle Gelegenheit gewesen, den höheren Genius des deutschen
Volkes, auf dessen Beruf auch in der Politik wir uns endlich anfangen müssen
zu besinnen, gegenüber den erbärmlichen Lösungen gerade dieser Frage in den
Verfassungen anderer Völker zum Bewußtsein zu bringen. Das Parlament,
vor die reine Frage einer großen Machterweiterung gestellt, hätte das Aner¬
bieten dieser Erweiterung nicht abweisen können, ohne sich selbst ein moralisches
Mißtrauensvotum zu ertheilen. Im Falle der Annahme aber hätte es eine
Verantwortung übernommen, deren Gewicht es bald gefühlt haben würde. Das
Gewicht dieser Verantwortung würde das Parlament genöthigt haben, die
revolutionären Angriffe auf den Staat, wie die Angriffe auf die Ehre schutz¬
loser Privatpersonen in seiner Mitte zu unterdrücken. Das Verfahren bei der
Anwendung der in seine Hände gelegten Macht durfte man dem Parlamente
getrost überlassen, in der Gewißheit, daß eine große Verantwortung am besten
lehrt, die zweckmäßige Methode für den Gebrauch der Macht zu finden. Dies
Alles konnte nicht geschehen bei der Gestalt, welche die Regierungen ihrem
Entwürfe gegeben. Diesem Entwürfe gegenüber bewegte sich die Verhandlung
des Reichstages auf einer niedrigen Ebene hauptsächlich um die Frage, ob das
Hausrecht des Parlamentes durch den Entwurf beeinträchtigt werde. Kein
Redner erhob sich zu der Unbefangenheit der Auffassung, die Beeinträchtigung


Körperschaft, in welcher durch die Macht der Theilnahme ein den größten Ent¬
scheidungen dem Einzelnen der Anlaß zum Mißbräuche und zur Leidenschaft
nahegelegt ist, jene Ziele durch blos moralische Mittel sichern kann, so wird
man die Frage sofort verneinen müssen. Daraus folgt die Nothwendigkeit
einer Erweiterung des parlamentarischen Privilegiums, nämlich auf den Ge¬
brauch anderer als blos moralischer Mittel zum Schutze der Würde des Par¬
lamentes. Eine solche Erweiterung ist aber Sache des Gesetzes und an:
korrektesten Sache der Verfassungsbestimmung. Demnach hätte die Regierung
einen Artikel 27d vorschlagen sollen: „Der Reichstag hat das Recht, Mitglieder,
die sich gegen seine Würde vergehen, für einen Theil oder bis zum Schlüsse
der Legislaturperiode auszuschließen. Der Wahlkreis des betroffenen Abge¬
ordneten kann eine Neuwahl verlangen. Im Falle der Wiederwahl des aus¬
geschlossenen Abgeordneten verzichtet der Wahlkreis für die Dauer der Aus¬
schließung auf seine Vertretung. Der Reichstag kann das Mandat eines
Abgeordneten kassiren, die Wiederwahl des betroffenen Abgeordneten wird
dadurch in jedem Wahlkreise für alle künftigen Wahlen ungiltig, fo lauge die
Kasstrung nicht durch einen neuen Reichstagsbeschluß aufgehoben worden."

Hätte die Reichsregierung einen solchen Verfassungsartikel vorgeschlagen,
so hätte sie die Frage eines großen Prinzipes korrekt gestellt, dessen richtige
Lösung zu verfechten sie in die beneidenswerthe Lage gekommen wäre. Es
wäre eine werthvolle Gelegenheit gewesen, den höheren Genius des deutschen
Volkes, auf dessen Beruf auch in der Politik wir uns endlich anfangen müssen
zu besinnen, gegenüber den erbärmlichen Lösungen gerade dieser Frage in den
Verfassungen anderer Völker zum Bewußtsein zu bringen. Das Parlament,
vor die reine Frage einer großen Machterweiterung gestellt, hätte das Aner¬
bieten dieser Erweiterung nicht abweisen können, ohne sich selbst ein moralisches
Mißtrauensvotum zu ertheilen. Im Falle der Annahme aber hätte es eine
Verantwortung übernommen, deren Gewicht es bald gefühlt haben würde. Das
Gewicht dieser Verantwortung würde das Parlament genöthigt haben, die
revolutionären Angriffe auf den Staat, wie die Angriffe auf die Ehre schutz¬
loser Privatpersonen in seiner Mitte zu unterdrücken. Das Verfahren bei der
Anwendung der in seine Hände gelegten Macht durfte man dem Parlamente
getrost überlassen, in der Gewißheit, daß eine große Verantwortung am besten
lehrt, die zweckmäßige Methode für den Gebrauch der Macht zu finden. Dies
Alles konnte nicht geschehen bei der Gestalt, welche die Regierungen ihrem
Entwürfe gegeben. Diesem Entwürfe gegenüber bewegte sich die Verhandlung
des Reichstages auf einer niedrigen Ebene hauptsächlich um die Frage, ob das
Hausrecht des Parlamentes durch den Entwurf beeinträchtigt werde. Kein
Redner erhob sich zu der Unbefangenheit der Auffassung, die Beeinträchtigung


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[0459] Körperschaft, in welcher durch die Macht der Theilnahme ein den größten Ent¬ scheidungen dem Einzelnen der Anlaß zum Mißbräuche und zur Leidenschaft nahegelegt ist, jene Ziele durch blos moralische Mittel sichern kann, so wird man die Frage sofort verneinen müssen. Daraus folgt die Nothwendigkeit einer Erweiterung des parlamentarischen Privilegiums, nämlich auf den Ge¬ brauch anderer als blos moralischer Mittel zum Schutze der Würde des Par¬ lamentes. Eine solche Erweiterung ist aber Sache des Gesetzes und an: korrektesten Sache der Verfassungsbestimmung. Demnach hätte die Regierung einen Artikel 27d vorschlagen sollen: „Der Reichstag hat das Recht, Mitglieder, die sich gegen seine Würde vergehen, für einen Theil oder bis zum Schlüsse der Legislaturperiode auszuschließen. Der Wahlkreis des betroffenen Abge¬ ordneten kann eine Neuwahl verlangen. Im Falle der Wiederwahl des aus¬ geschlossenen Abgeordneten verzichtet der Wahlkreis für die Dauer der Aus¬ schließung auf seine Vertretung. Der Reichstag kann das Mandat eines Abgeordneten kassiren, die Wiederwahl des betroffenen Abgeordneten wird dadurch in jedem Wahlkreise für alle künftigen Wahlen ungiltig, fo lauge die Kasstrung nicht durch einen neuen Reichstagsbeschluß aufgehoben worden." Hätte die Reichsregierung einen solchen Verfassungsartikel vorgeschlagen, so hätte sie die Frage eines großen Prinzipes korrekt gestellt, dessen richtige Lösung zu verfechten sie in die beneidenswerthe Lage gekommen wäre. Es wäre eine werthvolle Gelegenheit gewesen, den höheren Genius des deutschen Volkes, auf dessen Beruf auch in der Politik wir uns endlich anfangen müssen zu besinnen, gegenüber den erbärmlichen Lösungen gerade dieser Frage in den Verfassungen anderer Völker zum Bewußtsein zu bringen. Das Parlament, vor die reine Frage einer großen Machterweiterung gestellt, hätte das Aner¬ bieten dieser Erweiterung nicht abweisen können, ohne sich selbst ein moralisches Mißtrauensvotum zu ertheilen. Im Falle der Annahme aber hätte es eine Verantwortung übernommen, deren Gewicht es bald gefühlt haben würde. Das Gewicht dieser Verantwortung würde das Parlament genöthigt haben, die revolutionären Angriffe auf den Staat, wie die Angriffe auf die Ehre schutz¬ loser Privatpersonen in seiner Mitte zu unterdrücken. Das Verfahren bei der Anwendung der in seine Hände gelegten Macht durfte man dem Parlamente getrost überlassen, in der Gewißheit, daß eine große Verantwortung am besten lehrt, die zweckmäßige Methode für den Gebrauch der Macht zu finden. Dies Alles konnte nicht geschehen bei der Gestalt, welche die Regierungen ihrem Entwürfe gegeben. Diesem Entwürfe gegenüber bewegte sich die Verhandlung des Reichstages auf einer niedrigen Ebene hauptsächlich um die Frage, ob das Hausrecht des Parlamentes durch den Entwurf beeinträchtigt werde. Kein Redner erhob sich zu der Unbefangenheit der Auffassung, die Beeinträchtigung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/459>, abgerufen am 03.07.2024.