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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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in dem Ungeschick der Bearbeiter des Entwurfes zu suchen, die Absicht der
Regierung dagegen auf die Lösung einer noch ungelösten Frage anzuerkennen.
Lehrreich war nur der Abgeordnete Gneist, was dieser Redner so oft ist, und
wie noch öfter, zog er aus der scharfen und richtigen Beleuchtung des Gegen¬
standes einen unrichtigen Schluß. Der bedeutendste unter den lebenden Staats¬
lehrern macht ans eine erstaunliche Weise die Ausführung wahr, die bald nach
den Tagen des Frankfurter Parlamentes ein Kollege mit witziger Bosheit über
den Beruf der Professoren zur praktischen Politik zum Besten gab. Mit Mei¬
sterschaft beherrscht Gneist bei jeder Staatsfrage die einschlagenden Begriffe,
nicht minder vollkommen beherrscht er das historische Material, aber fast un¬
fehlbar irrt er sich in der Würdigung des lebendigen Zustandes, auf welchen
aus Begriff und historischem Verständnisse die praktischen Folgerungen zu ziehen
sind. Gneist setzte den Dilettanten, welche über englisches Staatsrecht plaudern,
mit gewohnter Ueberlegenheit auseinander, daß die Parlamentsberichte in Eng¬
land unter dem gemeinen Strafrechte stehen, während die Freiheit der Mei¬
nungsäußerung im Parlamente fast schrankenlos ist. Das Erste folgt aus dem
Begriffe der mündlichen Verhandlung, das zweite aus dem Berufe eines hohen
Rathes der Nation für die Angelegenheiten des Staates. Aber falsch war sein
Schluß, daß wir es in Deutschland ebenso machen sollen oder auch nur machen
können. In England folgt allerdings ans dem Begriffe der reinen Mündlich¬
keit der Verhandlung, daß das Parlament keine authentischen schriftlichen Be¬
richte veröffentlichen läßt, welche ein einseitiges Bild der mündlichen Verhand¬
lung geben würden. In Deutschland verlangen und brauchen wir authentische
Akte über die Verhandlungen, weil wir die Mündlichkeit, d. h. die Unmittel¬
barkeit nicht als den beherrschenden Charakter derselben betrachten. Wir können
das mündliche Gerichtsverfahren einführen, weil vor dem Gerichte Jeder nur
zu seinem alleinigen Schaden sich als Narr oder Schurke präsentirt. Unser
Volkscharakter, der ein ebenso gutes Recht, vielmehr ein besseres als der eng¬
lische hat, sich politische Institutionen nach seiner Art zu schaffen, verlangt,
daß im Parlamente Jeder mit der Befugniß, aber auch mit dem Zügel des
Berufes auftrete, und seine Person dem Berufe unterwerfe. Dies will die Nation
kontroliren, und darum verlangt sie authentische Akte über die Verhandlungen,
in denen nichts blos Individuelles vorkommen soll. Weil dies so ist, muß die
Würde des Parlamentes, die Macht der Körperschaft gegenüber den Mitgliedern
stärker gewahrt werden als in England.

Wir brechen diese Betrachtung heute ab. Wenn nicht neue wichtige Vor¬
gänge dazwischentreten, so nehmen wir sie im nächsten Briefe wieder auf.
Wir haben diesmal den allgemeinen Satz ausgesprochen, daß kein Parla¬
ment seine Würde mit blos moralischen Mitteln wahren kann. Nun sind aber
im jetzigen Reichstage verschiedene Redner mit der Behauptung aufgetreten:
Diese Wahrung sei bisher gelungen. Die Richtigkeit dieser Behauptung wollen
^ wir untersuchen.






Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig.
Verlag von F. L. Herbig in Leipzig, -- Druck von Hüthel K Herrmann in Leipzig.

in dem Ungeschick der Bearbeiter des Entwurfes zu suchen, die Absicht der
Regierung dagegen auf die Lösung einer noch ungelösten Frage anzuerkennen.
Lehrreich war nur der Abgeordnete Gneist, was dieser Redner so oft ist, und
wie noch öfter, zog er aus der scharfen und richtigen Beleuchtung des Gegen¬
standes einen unrichtigen Schluß. Der bedeutendste unter den lebenden Staats¬
lehrern macht ans eine erstaunliche Weise die Ausführung wahr, die bald nach
den Tagen des Frankfurter Parlamentes ein Kollege mit witziger Bosheit über
den Beruf der Professoren zur praktischen Politik zum Besten gab. Mit Mei¬
sterschaft beherrscht Gneist bei jeder Staatsfrage die einschlagenden Begriffe,
nicht minder vollkommen beherrscht er das historische Material, aber fast un¬
fehlbar irrt er sich in der Würdigung des lebendigen Zustandes, auf welchen
aus Begriff und historischem Verständnisse die praktischen Folgerungen zu ziehen
sind. Gneist setzte den Dilettanten, welche über englisches Staatsrecht plaudern,
mit gewohnter Ueberlegenheit auseinander, daß die Parlamentsberichte in Eng¬
land unter dem gemeinen Strafrechte stehen, während die Freiheit der Mei¬
nungsäußerung im Parlamente fast schrankenlos ist. Das Erste folgt aus dem
Begriffe der mündlichen Verhandlung, das zweite aus dem Berufe eines hohen
Rathes der Nation für die Angelegenheiten des Staates. Aber falsch war sein
Schluß, daß wir es in Deutschland ebenso machen sollen oder auch nur machen
können. In England folgt allerdings ans dem Begriffe der reinen Mündlich¬
keit der Verhandlung, daß das Parlament keine authentischen schriftlichen Be¬
richte veröffentlichen läßt, welche ein einseitiges Bild der mündlichen Verhand¬
lung geben würden. In Deutschland verlangen und brauchen wir authentische
Akte über die Verhandlungen, weil wir die Mündlichkeit, d. h. die Unmittel¬
barkeit nicht als den beherrschenden Charakter derselben betrachten. Wir können
das mündliche Gerichtsverfahren einführen, weil vor dem Gerichte Jeder nur
zu seinem alleinigen Schaden sich als Narr oder Schurke präsentirt. Unser
Volkscharakter, der ein ebenso gutes Recht, vielmehr ein besseres als der eng¬
lische hat, sich politische Institutionen nach seiner Art zu schaffen, verlangt,
daß im Parlamente Jeder mit der Befugniß, aber auch mit dem Zügel des
Berufes auftrete, und seine Person dem Berufe unterwerfe. Dies will die Nation
kontroliren, und darum verlangt sie authentische Akte über die Verhandlungen,
in denen nichts blos Individuelles vorkommen soll. Weil dies so ist, muß die
Würde des Parlamentes, die Macht der Körperschaft gegenüber den Mitgliedern
stärker gewahrt werden als in England.

Wir brechen diese Betrachtung heute ab. Wenn nicht neue wichtige Vor¬
gänge dazwischentreten, so nehmen wir sie im nächsten Briefe wieder auf.
Wir haben diesmal den allgemeinen Satz ausgesprochen, daß kein Parla¬
ment seine Würde mit blos moralischen Mitteln wahren kann. Nun sind aber
im jetzigen Reichstage verschiedene Redner mit der Behauptung aufgetreten:
Diese Wahrung sei bisher gelungen. Die Richtigkeit dieser Behauptung wollen
^ wir untersuchen.






Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig.
Verlag von F. L. Herbig in Leipzig, — Druck von Hüthel K Herrmann in Leipzig.
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[0460] in dem Ungeschick der Bearbeiter des Entwurfes zu suchen, die Absicht der Regierung dagegen auf die Lösung einer noch ungelösten Frage anzuerkennen. Lehrreich war nur der Abgeordnete Gneist, was dieser Redner so oft ist, und wie noch öfter, zog er aus der scharfen und richtigen Beleuchtung des Gegen¬ standes einen unrichtigen Schluß. Der bedeutendste unter den lebenden Staats¬ lehrern macht ans eine erstaunliche Weise die Ausführung wahr, die bald nach den Tagen des Frankfurter Parlamentes ein Kollege mit witziger Bosheit über den Beruf der Professoren zur praktischen Politik zum Besten gab. Mit Mei¬ sterschaft beherrscht Gneist bei jeder Staatsfrage die einschlagenden Begriffe, nicht minder vollkommen beherrscht er das historische Material, aber fast un¬ fehlbar irrt er sich in der Würdigung des lebendigen Zustandes, auf welchen aus Begriff und historischem Verständnisse die praktischen Folgerungen zu ziehen sind. Gneist setzte den Dilettanten, welche über englisches Staatsrecht plaudern, mit gewohnter Ueberlegenheit auseinander, daß die Parlamentsberichte in Eng¬ land unter dem gemeinen Strafrechte stehen, während die Freiheit der Mei¬ nungsäußerung im Parlamente fast schrankenlos ist. Das Erste folgt aus dem Begriffe der mündlichen Verhandlung, das zweite aus dem Berufe eines hohen Rathes der Nation für die Angelegenheiten des Staates. Aber falsch war sein Schluß, daß wir es in Deutschland ebenso machen sollen oder auch nur machen können. In England folgt allerdings ans dem Begriffe der reinen Mündlich¬ keit der Verhandlung, daß das Parlament keine authentischen schriftlichen Be¬ richte veröffentlichen läßt, welche ein einseitiges Bild der mündlichen Verhand¬ lung geben würden. In Deutschland verlangen und brauchen wir authentische Akte über die Verhandlungen, weil wir die Mündlichkeit, d. h. die Unmittel¬ barkeit nicht als den beherrschenden Charakter derselben betrachten. Wir können das mündliche Gerichtsverfahren einführen, weil vor dem Gerichte Jeder nur zu seinem alleinigen Schaden sich als Narr oder Schurke präsentirt. Unser Volkscharakter, der ein ebenso gutes Recht, vielmehr ein besseres als der eng¬ lische hat, sich politische Institutionen nach seiner Art zu schaffen, verlangt, daß im Parlamente Jeder mit der Befugniß, aber auch mit dem Zügel des Berufes auftrete, und seine Person dem Berufe unterwerfe. Dies will die Nation kontroliren, und darum verlangt sie authentische Akte über die Verhandlungen, in denen nichts blos Individuelles vorkommen soll. Weil dies so ist, muß die Würde des Parlamentes, die Macht der Körperschaft gegenüber den Mitgliedern stärker gewahrt werden als in England. Wir brechen diese Betrachtung heute ab. Wenn nicht neue wichtige Vor¬ gänge dazwischentreten, so nehmen wir sie im nächsten Briefe wieder auf. Wir haben diesmal den allgemeinen Satz ausgesprochen, daß kein Parla¬ ment seine Würde mit blos moralischen Mitteln wahren kann. Nun sind aber im jetzigen Reichstage verschiedene Redner mit der Behauptung aufgetreten: Diese Wahrung sei bisher gelungen. Die Richtigkeit dieser Behauptung wollen ^ wir untersuchen. Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig. Verlag von F. L. Herbig in Leipzig, — Druck von Hüthel K Herrmann in Leipzig.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/460>, abgerufen am 01.07.2024.