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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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vorübergehendes Interesse. Das Reich des Atalik Ghcizi umfaßte den westlichsten
Theil China's, oder wie derselbe auch genannt wird, "Ostturkestan". Im Norden
trennten es die hohen Schneegebirge des Tian-sehen vom russischen Reiche, im
Süden das ebenso mächtige Kom-tun-Gebirge von den unter britischen Ein¬
flüsse stehenden Staaten. Auch die Westgrenze wurde durch himmelhohe Gebirge
bezeichnet, die über die vielberufene, uns erst in den letzten Jahren bekannt
gewordene Pamir von West nach Ost hinstreichen, während im Osten sich un¬
bestimmt die Grenzen in der Sandfluth der Gobiwüste verlieren. Durchschnittlich
1000 Meter über dem Meere gelegen, bildet Kaschgar ein gewaltiges Tafelland,
durch welches von West nach Ost sich der Tarymfluß zieht, um sich in den erst
vor zwei Jahren vom Russen Prschewalsky entdeckten Lob-See zu ergießen;
von Süden her durchströmen der Kaschgar, der Jarkend, der Choten das Land,
alles nicht schiffbare Zuflüsse des Tarym. Drei Seiten des Landes also -- der
Norden, Westen und Süden sind von himmelhohen Schneegebirgen umsäumt,
und nur die vierte verlünft in der asiatischen Hochwüste. Kaschgarien ist danach
ein ungeheures, hufeisenförmiges Thal. Es ist höchst fruchtbar -- war es
doch einst als "Garten Asien's" bekannt -- und namentlich reich an Korn,
Früchten und Baumwolle. 600 Kilometer lang, 400 Kilometer breit, könnte
das eigentliche Kaschgar bei seiner Fruchtbarkeit und günstigen Lage eine große
Menschenmenge ernähren; allein die ewigen Bürgerkriege und Invasionen, unter
denen das Land zu leiden hatte, haben die Bevölkerung auf eine Million Seelen
herabgedrückt.

Kaschgar, Aarkend, Choten, Aangy-Hissar, Asch-Turfan und Utön sind die
Hauptstädte, und nach ihnen führt das Land den Namen Dschiti-Schehr, d. i.
das Land der Sechsstädte, während es in Europa seit Marco Polo's Zeiten
(dreizehntes Jahrhundert) als Kaschgarien bekannt war; die Chinesen nennen
es Sule. Wenn nun der Verfasser, aus dem Bereiche der Thatsachen heraustretend,
in jenem schönen Thale die Wiege der Menschheit und unserer arischen Race im be¬
sonderen sieht, so vermögen wir ihm dorthin nicht zu folgen. Ueberblicke man die
lange Reihe "Paradiese", mit denen Gelehrte und Ungelehrte, Theologen und
Laien uns schon beglückt haben, so muß man recht skeptisch werden und bezweifeln,
daß das einzig wahre Paradies schon aufgefunden worden sei. Die Natur¬
forscher, welche diese Sache doch auch angeht, sagen bekanntlich, das Paradies,
bei ihnen Lemurien genannt, liege gar nicht mehr auf der Erdoberfläche, fondern
sei seit langer Zeit schon im indischen Ozean untergegangen. Herr Demetrius
Boulger dagegen weiß von dem Original-Ararat oder Arga-ratha (arische Arche!)
irgendwo in den Grenzgebirgen Kaschgarien's zu berichten, dessen Name bei den
frühesten Wanderungen der Menschheit mit nach Kleinasien genommen wurde,


vorübergehendes Interesse. Das Reich des Atalik Ghcizi umfaßte den westlichsten
Theil China's, oder wie derselbe auch genannt wird, „Ostturkestan". Im Norden
trennten es die hohen Schneegebirge des Tian-sehen vom russischen Reiche, im
Süden das ebenso mächtige Kom-tun-Gebirge von den unter britischen Ein¬
flüsse stehenden Staaten. Auch die Westgrenze wurde durch himmelhohe Gebirge
bezeichnet, die über die vielberufene, uns erst in den letzten Jahren bekannt
gewordene Pamir von West nach Ost hinstreichen, während im Osten sich un¬
bestimmt die Grenzen in der Sandfluth der Gobiwüste verlieren. Durchschnittlich
1000 Meter über dem Meere gelegen, bildet Kaschgar ein gewaltiges Tafelland,
durch welches von West nach Ost sich der Tarymfluß zieht, um sich in den erst
vor zwei Jahren vom Russen Prschewalsky entdeckten Lob-See zu ergießen;
von Süden her durchströmen der Kaschgar, der Jarkend, der Choten das Land,
alles nicht schiffbare Zuflüsse des Tarym. Drei Seiten des Landes also — der
Norden, Westen und Süden sind von himmelhohen Schneegebirgen umsäumt,
und nur die vierte verlünft in der asiatischen Hochwüste. Kaschgarien ist danach
ein ungeheures, hufeisenförmiges Thal. Es ist höchst fruchtbar — war es
doch einst als „Garten Asien's" bekannt — und namentlich reich an Korn,
Früchten und Baumwolle. 600 Kilometer lang, 400 Kilometer breit, könnte
das eigentliche Kaschgar bei seiner Fruchtbarkeit und günstigen Lage eine große
Menschenmenge ernähren; allein die ewigen Bürgerkriege und Invasionen, unter
denen das Land zu leiden hatte, haben die Bevölkerung auf eine Million Seelen
herabgedrückt.

Kaschgar, Aarkend, Choten, Aangy-Hissar, Asch-Turfan und Utön sind die
Hauptstädte, und nach ihnen führt das Land den Namen Dschiti-Schehr, d. i.
das Land der Sechsstädte, während es in Europa seit Marco Polo's Zeiten
(dreizehntes Jahrhundert) als Kaschgarien bekannt war; die Chinesen nennen
es Sule. Wenn nun der Verfasser, aus dem Bereiche der Thatsachen heraustretend,
in jenem schönen Thale die Wiege der Menschheit und unserer arischen Race im be¬
sonderen sieht, so vermögen wir ihm dorthin nicht zu folgen. Ueberblicke man die
lange Reihe „Paradiese", mit denen Gelehrte und Ungelehrte, Theologen und
Laien uns schon beglückt haben, so muß man recht skeptisch werden und bezweifeln,
daß das einzig wahre Paradies schon aufgefunden worden sei. Die Natur¬
forscher, welche diese Sache doch auch angeht, sagen bekanntlich, das Paradies,
bei ihnen Lemurien genannt, liege gar nicht mehr auf der Erdoberfläche, fondern
sei seit langer Zeit schon im indischen Ozean untergegangen. Herr Demetrius
Boulger dagegen weiß von dem Original-Ararat oder Arga-ratha (arische Arche!)
irgendwo in den Grenzgebirgen Kaschgarien's zu berichten, dessen Name bei den
frühesten Wanderungen der Menschheit mit nach Kleinasien genommen wurde,


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[0451] vorübergehendes Interesse. Das Reich des Atalik Ghcizi umfaßte den westlichsten Theil China's, oder wie derselbe auch genannt wird, „Ostturkestan". Im Norden trennten es die hohen Schneegebirge des Tian-sehen vom russischen Reiche, im Süden das ebenso mächtige Kom-tun-Gebirge von den unter britischen Ein¬ flüsse stehenden Staaten. Auch die Westgrenze wurde durch himmelhohe Gebirge bezeichnet, die über die vielberufene, uns erst in den letzten Jahren bekannt gewordene Pamir von West nach Ost hinstreichen, während im Osten sich un¬ bestimmt die Grenzen in der Sandfluth der Gobiwüste verlieren. Durchschnittlich 1000 Meter über dem Meere gelegen, bildet Kaschgar ein gewaltiges Tafelland, durch welches von West nach Ost sich der Tarymfluß zieht, um sich in den erst vor zwei Jahren vom Russen Prschewalsky entdeckten Lob-See zu ergießen; von Süden her durchströmen der Kaschgar, der Jarkend, der Choten das Land, alles nicht schiffbare Zuflüsse des Tarym. Drei Seiten des Landes also — der Norden, Westen und Süden sind von himmelhohen Schneegebirgen umsäumt, und nur die vierte verlünft in der asiatischen Hochwüste. Kaschgarien ist danach ein ungeheures, hufeisenförmiges Thal. Es ist höchst fruchtbar — war es doch einst als „Garten Asien's" bekannt — und namentlich reich an Korn, Früchten und Baumwolle. 600 Kilometer lang, 400 Kilometer breit, könnte das eigentliche Kaschgar bei seiner Fruchtbarkeit und günstigen Lage eine große Menschenmenge ernähren; allein die ewigen Bürgerkriege und Invasionen, unter denen das Land zu leiden hatte, haben die Bevölkerung auf eine Million Seelen herabgedrückt. Kaschgar, Aarkend, Choten, Aangy-Hissar, Asch-Turfan und Utön sind die Hauptstädte, und nach ihnen führt das Land den Namen Dschiti-Schehr, d. i. das Land der Sechsstädte, während es in Europa seit Marco Polo's Zeiten (dreizehntes Jahrhundert) als Kaschgarien bekannt war; die Chinesen nennen es Sule. Wenn nun der Verfasser, aus dem Bereiche der Thatsachen heraustretend, in jenem schönen Thale die Wiege der Menschheit und unserer arischen Race im be¬ sonderen sieht, so vermögen wir ihm dorthin nicht zu folgen. Ueberblicke man die lange Reihe „Paradiese", mit denen Gelehrte und Ungelehrte, Theologen und Laien uns schon beglückt haben, so muß man recht skeptisch werden und bezweifeln, daß das einzig wahre Paradies schon aufgefunden worden sei. Die Natur¬ forscher, welche diese Sache doch auch angeht, sagen bekanntlich, das Paradies, bei ihnen Lemurien genannt, liege gar nicht mehr auf der Erdoberfläche, fondern sei seit langer Zeit schon im indischen Ozean untergegangen. Herr Demetrius Boulger dagegen weiß von dem Original-Ararat oder Arga-ratha (arische Arche!) irgendwo in den Grenzgebirgen Kaschgarien's zu berichten, dessen Name bei den frühesten Wanderungen der Menschheit mit nach Kleinasien genommen wurde,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/451>, abgerufen am 26.08.2024.