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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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zuvor wieder aufgerichtet. Wer ihre Lebensdauer und unnachlasseude Wirksam¬
keit ist noch lange, lange nicht gesichert. Der deutsche Staat dreht sich wieder
einmal um die Frage des gemeinen Pfennigs. So uuaustilglich ist die
Natur der Völker, so unaustilglich ist vor allem das Unkraut, das aus ihrer
Anlage emporschießt. Heute wird der gemeine Pfennig "Matrikularbeiträge"
genannt. Die Frage ist, ob die Zentralgewalt die Mittel des Unterhaltes nach
Erlaubniß einer unberechenbaren Reichstagsmajorität bei den Einzelstaaten
erbetteln, oder ob sie dieselben aus eigenen Einnahmen schöpfen soll. Zu dem
ständischen Widerstreben, das die Einzelstaaten zum Glück nicht mehr in gleicher
Stärke wie sonst verkörpern, tritt heute der Widerstand des Parlaments, welches
an seine Macht, aber nicht an des Reiches Sicherheit denkt. Man meint, das
Parlament repräsentire die Zentralgewalt, als ob das Parlament durch seine
Abstimmungen mit den Einzelstaaten fertig werden könnte, ohne den starken
Arm der ausführenden Reichsgewalt; als ob dieser Arm je kräftig werden
könnte, wenn er von zufälligen Majoritäten bald soll lahm gelegt, bald überan¬
strengt werden können. Derselbe Mann, der die Formdes Reiches dem Auslande
und dem Partikularismus wieder abgerungen, ist jetzt dabei, dem neuen Reiche
die Lebensquellen besser zu sichern, als sie es dem alten waren, das an dieser
Unsicherheit zu Grunde gegangen. Der Widerstand, der sich an die Matrikular¬
beiträge als ein partikularistisches und parlamentarisches Machtmittel klammert,
ist indeß schon soweit zurückgewichen, Reichssteuern im Betrage der jetzigen
Matrikularbeiträge zur Verfügung zu stellen. Als ob damit etwas geholfen
wäre! Es handelt sich darum, das Reich von der Sorge zu befreien, von der
Bettelei, nicht nur um die Mittel der nächsten Gegenwart, sondern um die
Mittel für den deutlich vorgezeichneten Kreis von Aufgaben einer langen Zu¬
kunft. Wer die Erlangung dieser Mittel abhängig machen will von der boden¬
losen Zufälligkeit wechselnder Umstände, parlamentarischer und populärer Launen,
der will den Bestand des Reiches nicht sichern, sondern untergraben. Man führt
die thörichte Furcht in's Gefecht, eine auf sichere, von selbst wachsende Einnahmen
gestellte Reichsgewalt werde der Versuchung unterliegen, es mit der Reaktion zu
versuchen. Was ist denn eigentlich Reaktion? Fürst Bismarck soll neulich in
einer Gesellschaft die Definition gegeben haben: Reaktion sei der Absolutismus.
Er hat offenbar gemeint: der unzeitgemäße Absolutismus; also müssen wir
seine Definition wohl erweitern: Reaktion ist das Unternehmen, ein Volk gegen
die wahren Bedürfnisse der Lebensstufe zu regieren, welche es erreicht hat. Es
gehört wahrhaftig wenig Selbstgefühl und wenig Einsicht dazu, um überzeugt
zu sein, daß in Deutschland von jetzt an jeder Versuch, im Widerspruch mit
dem Volksgeist, bei der stillen Empörung oder auch nur bei der passiven Gleich-
giltigkeit desselben zu regieren, auf eine lange Periode hinaus unmöglich ist. Die


zuvor wieder aufgerichtet. Wer ihre Lebensdauer und unnachlasseude Wirksam¬
keit ist noch lange, lange nicht gesichert. Der deutsche Staat dreht sich wieder
einmal um die Frage des gemeinen Pfennigs. So uuaustilglich ist die
Natur der Völker, so unaustilglich ist vor allem das Unkraut, das aus ihrer
Anlage emporschießt. Heute wird der gemeine Pfennig „Matrikularbeiträge"
genannt. Die Frage ist, ob die Zentralgewalt die Mittel des Unterhaltes nach
Erlaubniß einer unberechenbaren Reichstagsmajorität bei den Einzelstaaten
erbetteln, oder ob sie dieselben aus eigenen Einnahmen schöpfen soll. Zu dem
ständischen Widerstreben, das die Einzelstaaten zum Glück nicht mehr in gleicher
Stärke wie sonst verkörpern, tritt heute der Widerstand des Parlaments, welches
an seine Macht, aber nicht an des Reiches Sicherheit denkt. Man meint, das
Parlament repräsentire die Zentralgewalt, als ob das Parlament durch seine
Abstimmungen mit den Einzelstaaten fertig werden könnte, ohne den starken
Arm der ausführenden Reichsgewalt; als ob dieser Arm je kräftig werden
könnte, wenn er von zufälligen Majoritäten bald soll lahm gelegt, bald überan¬
strengt werden können. Derselbe Mann, der die Formdes Reiches dem Auslande
und dem Partikularismus wieder abgerungen, ist jetzt dabei, dem neuen Reiche
die Lebensquellen besser zu sichern, als sie es dem alten waren, das an dieser
Unsicherheit zu Grunde gegangen. Der Widerstand, der sich an die Matrikular¬
beiträge als ein partikularistisches und parlamentarisches Machtmittel klammert,
ist indeß schon soweit zurückgewichen, Reichssteuern im Betrage der jetzigen
Matrikularbeiträge zur Verfügung zu stellen. Als ob damit etwas geholfen
wäre! Es handelt sich darum, das Reich von der Sorge zu befreien, von der
Bettelei, nicht nur um die Mittel der nächsten Gegenwart, sondern um die
Mittel für den deutlich vorgezeichneten Kreis von Aufgaben einer langen Zu¬
kunft. Wer die Erlangung dieser Mittel abhängig machen will von der boden¬
losen Zufälligkeit wechselnder Umstände, parlamentarischer und populärer Launen,
der will den Bestand des Reiches nicht sichern, sondern untergraben. Man führt
die thörichte Furcht in's Gefecht, eine auf sichere, von selbst wachsende Einnahmen
gestellte Reichsgewalt werde der Versuchung unterliegen, es mit der Reaktion zu
versuchen. Was ist denn eigentlich Reaktion? Fürst Bismarck soll neulich in
einer Gesellschaft die Definition gegeben haben: Reaktion sei der Absolutismus.
Er hat offenbar gemeint: der unzeitgemäße Absolutismus; also müssen wir
seine Definition wohl erweitern: Reaktion ist das Unternehmen, ein Volk gegen
die wahren Bedürfnisse der Lebensstufe zu regieren, welche es erreicht hat. Es
gehört wahrhaftig wenig Selbstgefühl und wenig Einsicht dazu, um überzeugt
zu sein, daß in Deutschland von jetzt an jeder Versuch, im Widerspruch mit
dem Volksgeist, bei der stillen Empörung oder auch nur bei der passiven Gleich-
giltigkeit desselben zu regieren, auf eine lange Periode hinaus unmöglich ist. Die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/416>, abgerufen am 03.07.2024.