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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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Stellung Deutschland's ist groß, ehrenvoll und gefahrvoll. Der alte Staatlose
Zustand war noch gefährlicher, aber die Gefahr war eine chronische, bei der
das Volk die meiste Zeit schlafen konnte. Die jetzige Gefahr ist eine akute,
die Eifersucht lauert überall auf den Augenblick, wo unsere Stärke verfällt
oder nicht auf ihrer Hut ist. Wir haben die Kraft vollauf, der Gefahr zu
begegnen, wenn wir uns nicht selbst leichtsinnig schwächen. Das ist der Fort¬
schritt gegen die Vergangenheit, aber auch die Bürgschaft gegen die Reaktion.
Was uns die Thorheiten der sogenannten Freiheit verbietet, das Spielzeug
parlamentarischer Machtmittel in uneinigen, ungelenken Händen, das verbietet
uns ebenso streng die Gelüste der Reaktion; beides bestraft sich mit unmittel¬
barer Lebensgefahr.

Von den Helden, welche das Reich wieder aufgerichtet, ist der eine zur
Ruhe gegangen, der noch lebenden Sorge und Ehre ist es, das Reich so weit
zu vollenden, um die nothwendigsten Lebensbedingungen desselben gesichert zu
hinterlassen. Der gegenwärtigen Reichstagssession hat der Kanzler die Aufgabe
gestellt, diese Arbeit zu beginnen und sie womöglich ein gutes Stück zu fördern.
Noch sind die Vorlagen zur Schaffung hinlänglicher Reichseinnahmen nicht
eingebracht, aber schon hat der Kampf um dieselben ein zweites Vorspiel --
die Gelegenheit zum ersten gab der österreichische Handelsvertrag -- bei der
allgemeinen Berathung über den Reichshaushalt gefunden. Zum Anführer
im Kampfe gegen eine gute Sache haben sich von jeher die Anhänger der
schlechten Sache weit weniger geeignet, als maßlose Selbstgefälligkeit, die sich
nach der Fllhrerrolle drängt, wie bedenklich immer die Aussichten des Kampfes
sein mögen. Die Zeiten sind vorbei, wo die Selbstgefälligkeit, die ernste Proben
fürchten muß, jeden Augenblick auf diese Probe gestellt werden konnte und des¬
halb im Gefolge der Helden einhergehen mußte. Im Zeitalter des Parla¬
mentarismus und der Preßfreiheit ist die Probe fern, und so ist Falstaff
Demagoge geworden. Heute rührt Falstaff den Prinzen an, es handelt sich
ja nur um schnöde Worte, und das Wort, zumal das parlamentarische, ist frei.
Die ungeheuerliche Phantasie, die Lügen sind dem Falstaff geblieben, aber der
Humor ist dem Demagogen verloren gegangen, dessen Eitelkeit die Heldenrolle
ernsthaft nimmt. Wir haben am 28. Februar den demagogischen Falstaff sich
selbst übertreffen hören. Wir hatten geglaubt, das sei nicht möglich nach der
Erzählung von den 200 Millionen Steuern, welche aufgelegt werden sollten,
ohne die alten um einen Pfennig zu vermindern. Dies hatten wir vorigen
Sommer als Flugblatt gelesen und uns eben davon erholt. Doch nun kommt
Falstaff mit erholter Phantasie.

Jetzt legt er sich aus für die Matrikularbeitrüge. Dieselben -- er hat
sie erst auf 76 Millionen und bald, da die "Kerle in Steifleinen" anfangs ab-


Stellung Deutschland's ist groß, ehrenvoll und gefahrvoll. Der alte Staatlose
Zustand war noch gefährlicher, aber die Gefahr war eine chronische, bei der
das Volk die meiste Zeit schlafen konnte. Die jetzige Gefahr ist eine akute,
die Eifersucht lauert überall auf den Augenblick, wo unsere Stärke verfällt
oder nicht auf ihrer Hut ist. Wir haben die Kraft vollauf, der Gefahr zu
begegnen, wenn wir uns nicht selbst leichtsinnig schwächen. Das ist der Fort¬
schritt gegen die Vergangenheit, aber auch die Bürgschaft gegen die Reaktion.
Was uns die Thorheiten der sogenannten Freiheit verbietet, das Spielzeug
parlamentarischer Machtmittel in uneinigen, ungelenken Händen, das verbietet
uns ebenso streng die Gelüste der Reaktion; beides bestraft sich mit unmittel¬
barer Lebensgefahr.

Von den Helden, welche das Reich wieder aufgerichtet, ist der eine zur
Ruhe gegangen, der noch lebenden Sorge und Ehre ist es, das Reich so weit
zu vollenden, um die nothwendigsten Lebensbedingungen desselben gesichert zu
hinterlassen. Der gegenwärtigen Reichstagssession hat der Kanzler die Aufgabe
gestellt, diese Arbeit zu beginnen und sie womöglich ein gutes Stück zu fördern.
Noch sind die Vorlagen zur Schaffung hinlänglicher Reichseinnahmen nicht
eingebracht, aber schon hat der Kampf um dieselben ein zweites Vorspiel —
die Gelegenheit zum ersten gab der österreichische Handelsvertrag — bei der
allgemeinen Berathung über den Reichshaushalt gefunden. Zum Anführer
im Kampfe gegen eine gute Sache haben sich von jeher die Anhänger der
schlechten Sache weit weniger geeignet, als maßlose Selbstgefälligkeit, die sich
nach der Fllhrerrolle drängt, wie bedenklich immer die Aussichten des Kampfes
sein mögen. Die Zeiten sind vorbei, wo die Selbstgefälligkeit, die ernste Proben
fürchten muß, jeden Augenblick auf diese Probe gestellt werden konnte und des¬
halb im Gefolge der Helden einhergehen mußte. Im Zeitalter des Parla¬
mentarismus und der Preßfreiheit ist die Probe fern, und so ist Falstaff
Demagoge geworden. Heute rührt Falstaff den Prinzen an, es handelt sich
ja nur um schnöde Worte, und das Wort, zumal das parlamentarische, ist frei.
Die ungeheuerliche Phantasie, die Lügen sind dem Falstaff geblieben, aber der
Humor ist dem Demagogen verloren gegangen, dessen Eitelkeit die Heldenrolle
ernsthaft nimmt. Wir haben am 28. Februar den demagogischen Falstaff sich
selbst übertreffen hören. Wir hatten geglaubt, das sei nicht möglich nach der
Erzählung von den 200 Millionen Steuern, welche aufgelegt werden sollten,
ohne die alten um einen Pfennig zu vermindern. Dies hatten wir vorigen
Sommer als Flugblatt gelesen und uns eben davon erholt. Doch nun kommt
Falstaff mit erholter Phantasie.

Jetzt legt er sich aus für die Matrikularbeitrüge. Dieselben — er hat
sie erst auf 76 Millionen und bald, da die „Kerle in Steifleinen" anfangs ab-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/417>, abgerufen am 23.07.2024.