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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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waren einzelne Persönlichkeiten, mit den Gaben des Geistes ausgestattet, die
in den Versammlungen das Wort ergriffen.

Die wichtigste und werthvollste Gabe zur Erbauung der Gemeinde war
die Gabe der Lehre. Schloß nun die Lehrthätigkeit sich an einen Text, an eine
Schriftvorlesung an? Das ist die Frage, die wir zuerst beantworten müssen.
Daß wir an neutestamentliche Schriften nicht denken können, liegt auf der Hand.
Der Kanon des Neuen Testaments war erst im Werden, noch nicht ein in
sich abgeschlossenes Ganzes, das Lehrvorträgen hätte zu Grunde gelegt werden
können. Die apostolischen Briefe waren Gelegenheitsschriften und nur für ein¬
zelne Gemeinden oder eine Reihe derselben bestimmt, sie wurden allerdings in
den gottesdienstlichen Versammlungen vorgelesen, aber doch nur so lange, bis
ihr Inhalt angeeignet war. Dagegen unterliegt es keinem Zweifel, daß in die
Lehrvorträge, und nicht blos in sie, aber doch in sie vorzugsweise, die evan¬
gelische Lehre, soweit sie fixirt war, aufgenommen wurde. Und theilweise
wenigstens hatte allerdings eine solche Fixirung schon stattgefunden. Wir
wissen, daß die Art und Weise der Lehrbezeugung einer bestimmten Regel folgte.
Ordnung und Auffassung des Ganzen wie der einzelnen Theile der evangeli¬
schen Lehre hatten feste Gestalt gewonnen. Solche Zusammenfassungen der¬
selben hat Paulus im Auge, wenn er von dem "Evangelium", dem "Wort
vom Kreuz", dem "Zeugniß Gottes", dem "Wort Gottes", der "Ueberlieferung"
redet. Sie sind es, an welche die Briefe an Timotheus und Titus denken,
wenn sie der "Worte des Glaubens", der "guten Lehre", der "der Frömmig¬
keit gemäßen Lehre", der "gesunden Worte unseres Herrn" Erwähnung thun.

Ebenso ist es gewiß, daß bestimmte Abschnitte aus dem Leben Jesu, die
Einsetzung des Abendmahls, die Geschichte des Leidens und der Auferstehung
sormularisch überliefert wurden; die Art und Weise, wie Paulus sie reprodu-
zirt, liefert den Beweis. Auch einzelne Worte Jesu führt er an, bald um sie
zum Ausgangspunkte religiöser Aufschlüsse, bald um sie als Normen für das
sittliche Verhalten zu verwenden. Wir dürfen also voraussetzen, daß auch die
Reden Jesu zum Inhalte der Ueberlieferung geworden waren. Ja es kann,
nach dem Prolog des Lukas-Evangeliums, nicht gezweifelt werden, daß schrift¬
liche Aufzeichnungen über das Leben Jesu schon damals gemacht waren oder
doch gemacht wurden. Aber ihr Umfang war noch zu gering, als daß wir
eine Vorlesung derselben in den gottesdienstlichen Versammlungen, wenigstens
eine regelmäßige, voraussetzen dürften.

Schwer ist die andere Frage zu entscheiden, ob Vorlesungen aus dem alten
Testamente stattfanden. Berufungen darauf, Ausdeutungen im Lichte des
Evangeliums, finden wir reichlich. Aber daß daraus auf Vorlesungen in der
Gemeindeversammlung zu schließen sei, wagen wir nicht zu behaupten. Für


waren einzelne Persönlichkeiten, mit den Gaben des Geistes ausgestattet, die
in den Versammlungen das Wort ergriffen.

Die wichtigste und werthvollste Gabe zur Erbauung der Gemeinde war
die Gabe der Lehre. Schloß nun die Lehrthätigkeit sich an einen Text, an eine
Schriftvorlesung an? Das ist die Frage, die wir zuerst beantworten müssen.
Daß wir an neutestamentliche Schriften nicht denken können, liegt auf der Hand.
Der Kanon des Neuen Testaments war erst im Werden, noch nicht ein in
sich abgeschlossenes Ganzes, das Lehrvorträgen hätte zu Grunde gelegt werden
können. Die apostolischen Briefe waren Gelegenheitsschriften und nur für ein¬
zelne Gemeinden oder eine Reihe derselben bestimmt, sie wurden allerdings in
den gottesdienstlichen Versammlungen vorgelesen, aber doch nur so lange, bis
ihr Inhalt angeeignet war. Dagegen unterliegt es keinem Zweifel, daß in die
Lehrvorträge, und nicht blos in sie, aber doch in sie vorzugsweise, die evan¬
gelische Lehre, soweit sie fixirt war, aufgenommen wurde. Und theilweise
wenigstens hatte allerdings eine solche Fixirung schon stattgefunden. Wir
wissen, daß die Art und Weise der Lehrbezeugung einer bestimmten Regel folgte.
Ordnung und Auffassung des Ganzen wie der einzelnen Theile der evangeli¬
schen Lehre hatten feste Gestalt gewonnen. Solche Zusammenfassungen der¬
selben hat Paulus im Auge, wenn er von dem „Evangelium", dem „Wort
vom Kreuz", dem „Zeugniß Gottes", dem „Wort Gottes", der „Ueberlieferung"
redet. Sie sind es, an welche die Briefe an Timotheus und Titus denken,
wenn sie der „Worte des Glaubens", der „guten Lehre", der „der Frömmig¬
keit gemäßen Lehre", der „gesunden Worte unseres Herrn" Erwähnung thun.

Ebenso ist es gewiß, daß bestimmte Abschnitte aus dem Leben Jesu, die
Einsetzung des Abendmahls, die Geschichte des Leidens und der Auferstehung
sormularisch überliefert wurden; die Art und Weise, wie Paulus sie reprodu-
zirt, liefert den Beweis. Auch einzelne Worte Jesu führt er an, bald um sie
zum Ausgangspunkte religiöser Aufschlüsse, bald um sie als Normen für das
sittliche Verhalten zu verwenden. Wir dürfen also voraussetzen, daß auch die
Reden Jesu zum Inhalte der Ueberlieferung geworden waren. Ja es kann,
nach dem Prolog des Lukas-Evangeliums, nicht gezweifelt werden, daß schrift¬
liche Aufzeichnungen über das Leben Jesu schon damals gemacht waren oder
doch gemacht wurden. Aber ihr Umfang war noch zu gering, als daß wir
eine Vorlesung derselben in den gottesdienstlichen Versammlungen, wenigstens
eine regelmäßige, voraussetzen dürften.

Schwer ist die andere Frage zu entscheiden, ob Vorlesungen aus dem alten
Testamente stattfanden. Berufungen darauf, Ausdeutungen im Lichte des
Evangeliums, finden wir reichlich. Aber daß daraus auf Vorlesungen in der
Gemeindeversammlung zu schließen sei, wagen wir nicht zu behaupten. Für


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/392>, abgerufen am 23.07.2024.