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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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Judenchristen waren sie nicht nothwendig, denn ihr Zusammenhang mit der
jüdischen Synagoge war schwerlich schon abgebrochen, aber auch kaum für
Heidenchristen. Denn nach den Berichten der zeitgenössischen Schriftsteller übte
das Judenthum damals eine fo große Anziehungskraft auf Griechen und Römer
aus, daß am Synagogenkult wohl nicht blos die aus dem Heidenthume über¬
getretenen Proselyten, sondern auch viele Heiden Theil nahmen, die hier eine
Befriedigung ihrer religiösen Bedürfnisse suchten. Erst am Ausgange des apo¬
stolischen Zeitalters fing alttestamentliche Schriftvorlesung an, regelmäßiger
Bestandtheil des Gottesdienstes zu werden. Der erste Timotheusbries mahnt:
"Halte an mit Vorlesen", eine Mahnung, welche überflüssig gewesen wäre,
wenn die alttestamentliche Schriftvorlesung schon einen integrirenden Faktor
des Gottesdienstes gebildet Hütte. Wir kommen also zu dem Resultat, daß die
Lehrthätigkeit an keinen vorgelesenen Text gebunden war, wohl aber auf alt¬
testamentliche, zum Theil nach Sitte der Zeit allegorisch gedeutete Schriftab¬
schnitte Rücksicht nahm, und daß sie sich zugleich an die neutestamentliche
Ueberlieferung, soweit sie fixirt war, anlehnte und die Fixirung derselben in
größerem Umfange vermittelte.

Neben der Lehrgabe war die prophetische für die Versammlungen der
Christen die werthvollste. Wie die alttestamentliche, so schloß auch diese neu-
testamentliche Weissagung zwei heterogene Elemente in sich. Sie war einmal
eine durchaus aus's Praktische gerichtete, ernährende und tröstende Rede, die
zum Wandel im Sinne Jesu antreiben und durch die Vergegenwärtigung seiner
Verheißungen Muth und Kraft einflößen wollte; sie war aber sodann auch
Apokalypse, Deutung der Zeichen der Zeit, Enthüllung der Zukunft. Hier be¬
wegte sie sich auf gefährlichem Boden, der Schwärmerei bot sich ein weiter
Spielraum, und deshalb will sie Paulus durch die Bethätigung einer anderen
Gabe, der Geisterprüfung, beschränkt wissen. Der Weissagung soll zügelnd und
berichtigend die Kritik zur Seite gehen.

Am höchsten geschätzt von den Gemeinden war die Gabe des Zungenredens.
Hier ruhte die Thätigkeit des reflektirenden Verstandes fast völlig, die Bezie¬
hung der Seele zur Welt war gelöst. Unmittelbar in Gott versenkt, empfand
sie Zustände, zeigten sich ihrem Blicke Gebilde, die darzustellen der entsprechende
Ausdruck fehlte. Nur einzelne abgebrochene, aus tiefster Erregung hervorbrin¬
gende Worte bezeugten, was die Seele erfuhr. Und ließ diese gesteigerte Be¬
wegung des Gemiithslebens nach, kehrte die Seele in die ebenen Bahnen ver¬
ständiger Erwägung zurück, so war es ihr nicht immer möglich, Rechenschaft
von dem abzulegen, was in ihr vorgegangen war. Dann mochte ein anderes
Gemeindeglied, das in innerem Rapport zum Zungenredner stand und dessen
Zustände nachgefühlt hatte, sie ausbeuten. Konnte weder dies noch jenes


Judenchristen waren sie nicht nothwendig, denn ihr Zusammenhang mit der
jüdischen Synagoge war schwerlich schon abgebrochen, aber auch kaum für
Heidenchristen. Denn nach den Berichten der zeitgenössischen Schriftsteller übte
das Judenthum damals eine fo große Anziehungskraft auf Griechen und Römer
aus, daß am Synagogenkult wohl nicht blos die aus dem Heidenthume über¬
getretenen Proselyten, sondern auch viele Heiden Theil nahmen, die hier eine
Befriedigung ihrer religiösen Bedürfnisse suchten. Erst am Ausgange des apo¬
stolischen Zeitalters fing alttestamentliche Schriftvorlesung an, regelmäßiger
Bestandtheil des Gottesdienstes zu werden. Der erste Timotheusbries mahnt:
„Halte an mit Vorlesen", eine Mahnung, welche überflüssig gewesen wäre,
wenn die alttestamentliche Schriftvorlesung schon einen integrirenden Faktor
des Gottesdienstes gebildet Hütte. Wir kommen also zu dem Resultat, daß die
Lehrthätigkeit an keinen vorgelesenen Text gebunden war, wohl aber auf alt¬
testamentliche, zum Theil nach Sitte der Zeit allegorisch gedeutete Schriftab¬
schnitte Rücksicht nahm, und daß sie sich zugleich an die neutestamentliche
Ueberlieferung, soweit sie fixirt war, anlehnte und die Fixirung derselben in
größerem Umfange vermittelte.

Neben der Lehrgabe war die prophetische für die Versammlungen der
Christen die werthvollste. Wie die alttestamentliche, so schloß auch diese neu-
testamentliche Weissagung zwei heterogene Elemente in sich. Sie war einmal
eine durchaus aus's Praktische gerichtete, ernährende und tröstende Rede, die
zum Wandel im Sinne Jesu antreiben und durch die Vergegenwärtigung seiner
Verheißungen Muth und Kraft einflößen wollte; sie war aber sodann auch
Apokalypse, Deutung der Zeichen der Zeit, Enthüllung der Zukunft. Hier be¬
wegte sie sich auf gefährlichem Boden, der Schwärmerei bot sich ein weiter
Spielraum, und deshalb will sie Paulus durch die Bethätigung einer anderen
Gabe, der Geisterprüfung, beschränkt wissen. Der Weissagung soll zügelnd und
berichtigend die Kritik zur Seite gehen.

Am höchsten geschätzt von den Gemeinden war die Gabe des Zungenredens.
Hier ruhte die Thätigkeit des reflektirenden Verstandes fast völlig, die Bezie¬
hung der Seele zur Welt war gelöst. Unmittelbar in Gott versenkt, empfand
sie Zustände, zeigten sich ihrem Blicke Gebilde, die darzustellen der entsprechende
Ausdruck fehlte. Nur einzelne abgebrochene, aus tiefster Erregung hervorbrin¬
gende Worte bezeugten, was die Seele erfuhr. Und ließ diese gesteigerte Be¬
wegung des Gemiithslebens nach, kehrte die Seele in die ebenen Bahnen ver¬
ständiger Erwägung zurück, so war es ihr nicht immer möglich, Rechenschaft
von dem abzulegen, was in ihr vorgegangen war. Dann mochte ein anderes
Gemeindeglied, das in innerem Rapport zum Zungenredner stand und dessen
Zustände nachgefühlt hatte, sie ausbeuten. Konnte weder dies noch jenes


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[0393] Judenchristen waren sie nicht nothwendig, denn ihr Zusammenhang mit der jüdischen Synagoge war schwerlich schon abgebrochen, aber auch kaum für Heidenchristen. Denn nach den Berichten der zeitgenössischen Schriftsteller übte das Judenthum damals eine fo große Anziehungskraft auf Griechen und Römer aus, daß am Synagogenkult wohl nicht blos die aus dem Heidenthume über¬ getretenen Proselyten, sondern auch viele Heiden Theil nahmen, die hier eine Befriedigung ihrer religiösen Bedürfnisse suchten. Erst am Ausgange des apo¬ stolischen Zeitalters fing alttestamentliche Schriftvorlesung an, regelmäßiger Bestandtheil des Gottesdienstes zu werden. Der erste Timotheusbries mahnt: „Halte an mit Vorlesen", eine Mahnung, welche überflüssig gewesen wäre, wenn die alttestamentliche Schriftvorlesung schon einen integrirenden Faktor des Gottesdienstes gebildet Hütte. Wir kommen also zu dem Resultat, daß die Lehrthätigkeit an keinen vorgelesenen Text gebunden war, wohl aber auf alt¬ testamentliche, zum Theil nach Sitte der Zeit allegorisch gedeutete Schriftab¬ schnitte Rücksicht nahm, und daß sie sich zugleich an die neutestamentliche Ueberlieferung, soweit sie fixirt war, anlehnte und die Fixirung derselben in größerem Umfange vermittelte. Neben der Lehrgabe war die prophetische für die Versammlungen der Christen die werthvollste. Wie die alttestamentliche, so schloß auch diese neu- testamentliche Weissagung zwei heterogene Elemente in sich. Sie war einmal eine durchaus aus's Praktische gerichtete, ernährende und tröstende Rede, die zum Wandel im Sinne Jesu antreiben und durch die Vergegenwärtigung seiner Verheißungen Muth und Kraft einflößen wollte; sie war aber sodann auch Apokalypse, Deutung der Zeichen der Zeit, Enthüllung der Zukunft. Hier be¬ wegte sie sich auf gefährlichem Boden, der Schwärmerei bot sich ein weiter Spielraum, und deshalb will sie Paulus durch die Bethätigung einer anderen Gabe, der Geisterprüfung, beschränkt wissen. Der Weissagung soll zügelnd und berichtigend die Kritik zur Seite gehen. Am höchsten geschätzt von den Gemeinden war die Gabe des Zungenredens. Hier ruhte die Thätigkeit des reflektirenden Verstandes fast völlig, die Bezie¬ hung der Seele zur Welt war gelöst. Unmittelbar in Gott versenkt, empfand sie Zustände, zeigten sich ihrem Blicke Gebilde, die darzustellen der entsprechende Ausdruck fehlte. Nur einzelne abgebrochene, aus tiefster Erregung hervorbrin¬ gende Worte bezeugten, was die Seele erfuhr. Und ließ diese gesteigerte Be¬ wegung des Gemiithslebens nach, kehrte die Seele in die ebenen Bahnen ver¬ ständiger Erwägung zurück, so war es ihr nicht immer möglich, Rechenschaft von dem abzulegen, was in ihr vorgegangen war. Dann mochte ein anderes Gemeindeglied, das in innerem Rapport zum Zungenredner stand und dessen Zustände nachgefühlt hatte, sie ausbeuten. Konnte weder dies noch jenes

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/393>, abgerufen am 03.07.2024.