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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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Erst als die politischen Fragen nicht mehr im Vordergrunde standen,
konnte Fürst Bismarck an die Betrachtung der wirthschaftlichen an sich, d. h.
ohne deren Zusammenhang mit jenen denken, und als Delbrück in dieser Zeit
(25. April 1876) "aus Gesundheitsrücksichten" seinen Abschied nahm, war der
Kanzler gezwungen, sich durch eingehendes Studium jenes Gebietes vorzube¬
reiten, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Dieses Studium, das sich bei
ihm, wie das seine Art ist, nicht so sehr auf die Theorie, als auf die Erfahrung
gerichtet haben wird, bestärkte ihn in der Meinung, daß andere Wege als
die bisherigen eingeschlagen werden müßten. Aber noch immer wäre er, wie
das ebenfalls seine Art ist, zu einem Kompromiß geneigt gewesen; denn er
versuchte, sich mit seinem früheren Mitarbeiter über eine neue Form der Mit¬
wirkung in's Einvernehmen zu setzen, und erst als dies mißlang, entschloß er
sich, allein vorzugehen.

Ein Hauptanlaß zu dem neuen Wege, den er einschlug, kam von außen.
Die ganze Richtung der Zeit war in wirthschaftlichen Angelegenheiten all¬
mählich eine andere geworden. Die Nachbarstaaten schickten sich an oder
waren schon mitten darin, ihre Zölle zu erhöhen: Oesterreich; Rußland, das
durch die Verfügung, nach welcher die Eingangsabgaben fortan in Gold gezahlt
werden sollten, mit einem Schlage seine Zwecke erreichte; Frankreich, das in
Folge der Thiers'schen Zollpolitik trotz der Bezahlung der Milliarden nach
wie vor wirthschaftlich gedieh; Amerika, das jetzt für seine Industrie die Welt¬
märkte erobert. Nur zwei gingen mehr und mehr zurück, das reiche vollkräftige
England mit seiner alten und durch Verhältnisse der verschiedensten Art be¬
günstigten Gewerbsthätigkeit und das vergleichsweise arme, in seiner industriellen
Konstitution schwächliche und noch in den Anfängen begriffene Deutschland,
und zwar dieses am meisten. Angesichts jener Erfolge und dieser Mißerfolge,
angesichts der Nothlage in Deutschland war nicht mehr zu zweifeln und nicht
mehr zu zögern. Mit dem 15. Dezember vorigen Jahres begann die neue
Aera, von der nur zu wünschen, daß sie rascher als bisher über die Vorbe-


richt der Schatten von Wirklichkeit liegt dafür vor, wenn man diese beklagenswerthe Aende¬
rung in unserem Personalbestände mit irgend einer politischen oder sachlichen Frage in Ver¬
bindung bringt. Zwischen Delbrück und Sr. Majestät dem Könige, und zwischen ihm und
mir ist auch nicht ein Schatten von einer Meinungsverschiedenheit über irgend eine der
schwebenden Fragen zu Tage getreten. Minister Delbrück hatte in allen Fällen den Muth
seiner Meinung und verschwieg sie nicht. Wir sind oft verschiedener Ansicht gewesen, und
da es sich meist um Dinge handelte, die er besser verstand als ich, so bin ich sehr oft in
der Lage gewesen, seiner besseren Einsicht nachzugeben. Ich habe mit ihm fünfundzwanzig
Jahre lang gemeinschaftlich gearbeitet und zehn Jahre in kollegialischem Verhältnisse; er
wußte, daß jede, auch die bedeutendste Frage von mir eher vertagt werden würde, als daß
ich sie zum Anlaß seines Rücktritts hätte werden lassen.

Erst als die politischen Fragen nicht mehr im Vordergrunde standen,
konnte Fürst Bismarck an die Betrachtung der wirthschaftlichen an sich, d. h.
ohne deren Zusammenhang mit jenen denken, und als Delbrück in dieser Zeit
(25. April 1876) „aus Gesundheitsrücksichten" seinen Abschied nahm, war der
Kanzler gezwungen, sich durch eingehendes Studium jenes Gebietes vorzube¬
reiten, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Dieses Studium, das sich bei
ihm, wie das seine Art ist, nicht so sehr auf die Theorie, als auf die Erfahrung
gerichtet haben wird, bestärkte ihn in der Meinung, daß andere Wege als
die bisherigen eingeschlagen werden müßten. Aber noch immer wäre er, wie
das ebenfalls seine Art ist, zu einem Kompromiß geneigt gewesen; denn er
versuchte, sich mit seinem früheren Mitarbeiter über eine neue Form der Mit¬
wirkung in's Einvernehmen zu setzen, und erst als dies mißlang, entschloß er
sich, allein vorzugehen.

Ein Hauptanlaß zu dem neuen Wege, den er einschlug, kam von außen.
Die ganze Richtung der Zeit war in wirthschaftlichen Angelegenheiten all¬
mählich eine andere geworden. Die Nachbarstaaten schickten sich an oder
waren schon mitten darin, ihre Zölle zu erhöhen: Oesterreich; Rußland, das
durch die Verfügung, nach welcher die Eingangsabgaben fortan in Gold gezahlt
werden sollten, mit einem Schlage seine Zwecke erreichte; Frankreich, das in
Folge der Thiers'schen Zollpolitik trotz der Bezahlung der Milliarden nach
wie vor wirthschaftlich gedieh; Amerika, das jetzt für seine Industrie die Welt¬
märkte erobert. Nur zwei gingen mehr und mehr zurück, das reiche vollkräftige
England mit seiner alten und durch Verhältnisse der verschiedensten Art be¬
günstigten Gewerbsthätigkeit und das vergleichsweise arme, in seiner industriellen
Konstitution schwächliche und noch in den Anfängen begriffene Deutschland,
und zwar dieses am meisten. Angesichts jener Erfolge und dieser Mißerfolge,
angesichts der Nothlage in Deutschland war nicht mehr zu zweifeln und nicht
mehr zu zögern. Mit dem 15. Dezember vorigen Jahres begann die neue
Aera, von der nur zu wünschen, daß sie rascher als bisher über die Vorbe-


richt der Schatten von Wirklichkeit liegt dafür vor, wenn man diese beklagenswerthe Aende¬
rung in unserem Personalbestände mit irgend einer politischen oder sachlichen Frage in Ver¬
bindung bringt. Zwischen Delbrück und Sr. Majestät dem Könige, und zwischen ihm und
mir ist auch nicht ein Schatten von einer Meinungsverschiedenheit über irgend eine der
schwebenden Fragen zu Tage getreten. Minister Delbrück hatte in allen Fällen den Muth
seiner Meinung und verschwieg sie nicht. Wir sind oft verschiedener Ansicht gewesen, und
da es sich meist um Dinge handelte, die er besser verstand als ich, so bin ich sehr oft in
der Lage gewesen, seiner besseren Einsicht nachzugeben. Ich habe mit ihm fünfundzwanzig
Jahre lang gemeinschaftlich gearbeitet und zehn Jahre in kollegialischem Verhältnisse; er
wußte, daß jede, auch die bedeutendste Frage von mir eher vertagt werden würde, als daß
ich sie zum Anlaß seines Rücktritts hätte werden lassen.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/375>, abgerufen am 23.07.2024.