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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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sehe Publikation ebenfalls wichtige Dokumente bringt, auf welche wir aber erst
in einem zweiten Aufsatz zurückkommen wollen.

So viel wird aus den Briefen Goethe's an Sophie La Roche klar, daß,
wenn Goethe in "Dichtung und Wahrheit" sein Verhältniß zu Maximiliane und
dem Brentano'schen Hause, wie so vieles andere, mehr umschleiert als deutlich
geschildert hat, er dazu um seinetwillen keinen Grund hatte. Wie fein Bild
durch Veröffentlichung der authentischen Zeugnisse über seinen Verkehr mit Lotte,
der in seiner Selbstbiographie ebenfalls verhüllt erscheint, nur gewonnen hat,
so auch im vorliegenden Falle. Es läuft immer wieder auf das Wort Jung
Stilling's hinaus: "Goethe's Herz, das nur wenige kannten, war so groß, wie
sein Verstand, den alle kannten."

Nun aber noch eine wichtige Frage. Hat Goethe's Verkehr mit Maximi¬
liane irgendwo einen poetischen niederschlug gefunden? Wenn man bedenkt,
daß alle Goethe'sche Poesie Erlebniß war, und daß man bei allen seinen
Dichtungen das Recht hat, nach den faktischen Vorgängen zu suchen, so wird
man auch das Verfahren einmal umkehren und fragen dürfen: Wo hat dieses
Erlebniß dichterische Gestalt gewonnen?

Lewes und nach ihm Goedeke haben, freilich auf Grund der bisherigen
ungenügenden Kenntniß des Sachverhaltes, angenommen, daß dem Dichter bei
dem Fräulein von B. im zweiten Theile des "Werther" Maximiliane vorgeschwebt
habe. Dagegen hat Frese sehr richtig bemerkt, daß das doch eine allzu be¬
scheidene Rolle für sie sei. "Dies Fräulein von B.", sagt er, "ist gar keine In¬
dividualität, ist nur die Trägerin, die Exponentin einer Situation, in welcher
der Dichter die Prüfung gekränkten Ehrgeizes über Werther verhängt, und diese
Situation noch dazu ist so völlig im Gegensatz zu allen Zuständen des Bren¬
tano'schen Hauses, daß gar nicht abzusehen ist, wie Maximiliane gerade da hinein
Passen soll." Das Richtige hat unzweifelhaft bereits Herman Grimm in seinen
Vorlesungen über Goethe gesehen, und zwar, was zu bewundern ist, trotzdem
daß er die Briefe Goethe's an Frau von La Roche in sxtsnsv nicht gekannt
haben kann; nur die einzelnen auf Maxe bezügliche!: Bruchstücke davon, die
Loeper in seinem Kommentar zu "Dichtung und Wahrheit" mitgetheilt hat,
scheint er benutzt zu haben. Man hat Grimm oft übertriebene Neigung zur
Hypothese, eine gewisse Sucht, um jeden Preis Neues, Geistreiches, Ueber-
raschendes aufzustellen, vorgeworfen. Nun, wenn alle seine Hypothesen sich be¬
stätigten wie diese, dann wäre das kein Schade. Um's kurz zu sagen: Lotte im
zweiten Theile des "Werther" ist nicht mehr die wirkliche Lotte, wie im ersten
Theile, sondern niemand anders als Maximiliane; seit ihrer Verheirathung mit
Albert ist sie als die junge Frau Brentano gedacht, Albert ist nicht mehr Kestner,
er ist zum "guten Theil Brentano.


sehe Publikation ebenfalls wichtige Dokumente bringt, auf welche wir aber erst
in einem zweiten Aufsatz zurückkommen wollen.

So viel wird aus den Briefen Goethe's an Sophie La Roche klar, daß,
wenn Goethe in „Dichtung und Wahrheit" sein Verhältniß zu Maximiliane und
dem Brentano'schen Hause, wie so vieles andere, mehr umschleiert als deutlich
geschildert hat, er dazu um seinetwillen keinen Grund hatte. Wie fein Bild
durch Veröffentlichung der authentischen Zeugnisse über seinen Verkehr mit Lotte,
der in seiner Selbstbiographie ebenfalls verhüllt erscheint, nur gewonnen hat,
so auch im vorliegenden Falle. Es läuft immer wieder auf das Wort Jung
Stilling's hinaus: „Goethe's Herz, das nur wenige kannten, war so groß, wie
sein Verstand, den alle kannten."

Nun aber noch eine wichtige Frage. Hat Goethe's Verkehr mit Maximi¬
liane irgendwo einen poetischen niederschlug gefunden? Wenn man bedenkt,
daß alle Goethe'sche Poesie Erlebniß war, und daß man bei allen seinen
Dichtungen das Recht hat, nach den faktischen Vorgängen zu suchen, so wird
man auch das Verfahren einmal umkehren und fragen dürfen: Wo hat dieses
Erlebniß dichterische Gestalt gewonnen?

Lewes und nach ihm Goedeke haben, freilich auf Grund der bisherigen
ungenügenden Kenntniß des Sachverhaltes, angenommen, daß dem Dichter bei
dem Fräulein von B. im zweiten Theile des „Werther" Maximiliane vorgeschwebt
habe. Dagegen hat Frese sehr richtig bemerkt, daß das doch eine allzu be¬
scheidene Rolle für sie sei. „Dies Fräulein von B.", sagt er, „ist gar keine In¬
dividualität, ist nur die Trägerin, die Exponentin einer Situation, in welcher
der Dichter die Prüfung gekränkten Ehrgeizes über Werther verhängt, und diese
Situation noch dazu ist so völlig im Gegensatz zu allen Zuständen des Bren¬
tano'schen Hauses, daß gar nicht abzusehen ist, wie Maximiliane gerade da hinein
Passen soll." Das Richtige hat unzweifelhaft bereits Herman Grimm in seinen
Vorlesungen über Goethe gesehen, und zwar, was zu bewundern ist, trotzdem
daß er die Briefe Goethe's an Frau von La Roche in sxtsnsv nicht gekannt
haben kann; nur die einzelnen auf Maxe bezügliche!: Bruchstücke davon, die
Loeper in seinem Kommentar zu „Dichtung und Wahrheit" mitgetheilt hat,
scheint er benutzt zu haben. Man hat Grimm oft übertriebene Neigung zur
Hypothese, eine gewisse Sucht, um jeden Preis Neues, Geistreiches, Ueber-
raschendes aufzustellen, vorgeworfen. Nun, wenn alle seine Hypothesen sich be¬
stätigten wie diese, dann wäre das kein Schade. Um's kurz zu sagen: Lotte im
zweiten Theile des „Werther" ist nicht mehr die wirkliche Lotte, wie im ersten
Theile, sondern niemand anders als Maximiliane; seit ihrer Verheirathung mit
Albert ist sie als die junge Frau Brentano gedacht, Albert ist nicht mehr Kestner,
er ist zum "guten Theil Brentano.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/363>, abgerufen am 23.07.2024.