Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.Treffend hat Grimm auf die lange Pause hingewiesen, die zwischen Jeru¬ Frese hat, man sieht nicht ein warum, mit einer gewissen Gereiztheit diese " -X' Treffend hat Grimm auf die lange Pause hingewiesen, die zwischen Jeru¬ Frese hat, man sieht nicht ein warum, mit einer gewissen Gereiztheit diese « -X' <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0364" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/141775"/> <p xml:id="ID_1064"> Treffend hat Grimm auf die lange Pause hingewiesen, die zwischen Jeru¬<lb/> salem's Tod (Oktober 1772) und dem gleich darauf gefaßten Plan zur Werther¬<lb/> dichtung einerseits und der Ausführung dieses Planes andererseits (Herbst 1773<lb/> bis Sommer 1774) liegt, zugleich aber auf die auffällig langsame und stockende<lb/> Ausführung des Planes selbst. Die Sache erklärt sich nun einfach. Die That<lb/> Jerusalem's gab Goethe nur die Katastrophe mit allen ihren Umständen und<lb/> einzelnes, was der Katastrophe vorausging, an die Hand. Zwischen seinen<lb/> eigenen Wetzlarer Erlebnissen aber und dieser Katastrophe lag eine Lücke, die<lb/> sich, seiner eigenthümlichen Anlage nach, nur aus dem wirklich Erlebten seine<lb/> Phantasie zu nähren, einstweilen unausfüllbar zeigte. Es fehlte die Weiter¬<lb/> bildung der Charaktere für den zweiten Theil des Romans. Es fehlte für<lb/> Albert als Lottens Mann das Vorbild. Goethe kannte Kestner nur als Bräu¬<lb/> tigam und hatte ihn niemals eifersüchtig gesehen. Es fehlte ihm an Erfahrung,<lb/> um Werther als Liebhaber einer verheiratheten Frau erscheinen zu lassen. So¬<lb/> wie Maximiliane Brentano's Frau geworden war, hatte er mit einem Male die<lb/> Lage, die er brauchte. Unter Maximilianens Einfluß ist der zweite Theil des<lb/> „Werther" entstanden, ihr gilt die Empfindung, der er in dem Roman Luft<lb/> schafft, seitdem er zu ihrer beiderseitigen Ruhe den Entschluß gefaßt, ihr Haus<lb/> zu meiden. So wurde auf Kestner's arglose Gestalt die des argwöhnischen<lb/> Jtalieners gepfropft und beide zu jenem unerträglichen Albert verschmolzen, der<lb/> Kestner dann so vielen Kummer bereitete. Die Sätze im „Werther": „Zieht ihn<lb/> nicht jedes elende Geschüft mehr an, als die theuere köstliche Frau? Weiß er<lb/> sein Glück zu schätzen? ... Und hat denn die Freundschaft zu mir Stich ge¬<lb/> halten? Sieht er nicht in meiner Anhänglichkeit an Lotten schon einen Ein¬<lb/> griff in seine Rechte, in meiner Aufmerksamkeit für sie einen stillen Vorwurf?<lb/> ...Er sieht mich ungern, er wünscht meine Entfernung; meine Gegenwart ist<lb/> ihm beschwerlich", diese Sätze, sie könnten wörtlich so in Goethe's Briefen an<lb/> Frau von La Roche stehen. Dem Sinne nach stehen sie drin.</p><lb/> <p xml:id="ID_1065"> Frese hat, man sieht nicht ein warum, mit einer gewissen Gereiztheit diese<lb/> Auffassung bestritten, Loeper, der Herausgeber unserer Briefe und gegenwärtig<lb/> wohl der genaueste Kenner von Goethe's Leben, hat ihr simpel zugestimmt.<lb/> Die Zeit wird lehren, welche von beiden Meinungen sich Beifall erringen wird.<lb/> Die Grimm'sche Hypothese ist übrigens so alt wie der „Werther" selber ist. Lud-<lb/> milla Ussing hat bereits erzählt — was doch wohl auf Angaben Bettina's zurück¬<lb/> zuführen sein wird — daß gleich nach dem Erscheinen des „Werther" viele ge¬<lb/> funden hätten, „die liebliche Maximiliane habe mit zu Lottens Bild gesessen"</p><lb/> <note type="byline"> « -X'</note><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0364]
Treffend hat Grimm auf die lange Pause hingewiesen, die zwischen Jeru¬
salem's Tod (Oktober 1772) und dem gleich darauf gefaßten Plan zur Werther¬
dichtung einerseits und der Ausführung dieses Planes andererseits (Herbst 1773
bis Sommer 1774) liegt, zugleich aber auf die auffällig langsame und stockende
Ausführung des Planes selbst. Die Sache erklärt sich nun einfach. Die That
Jerusalem's gab Goethe nur die Katastrophe mit allen ihren Umständen und
einzelnes, was der Katastrophe vorausging, an die Hand. Zwischen seinen
eigenen Wetzlarer Erlebnissen aber und dieser Katastrophe lag eine Lücke, die
sich, seiner eigenthümlichen Anlage nach, nur aus dem wirklich Erlebten seine
Phantasie zu nähren, einstweilen unausfüllbar zeigte. Es fehlte die Weiter¬
bildung der Charaktere für den zweiten Theil des Romans. Es fehlte für
Albert als Lottens Mann das Vorbild. Goethe kannte Kestner nur als Bräu¬
tigam und hatte ihn niemals eifersüchtig gesehen. Es fehlte ihm an Erfahrung,
um Werther als Liebhaber einer verheiratheten Frau erscheinen zu lassen. So¬
wie Maximiliane Brentano's Frau geworden war, hatte er mit einem Male die
Lage, die er brauchte. Unter Maximilianens Einfluß ist der zweite Theil des
„Werther" entstanden, ihr gilt die Empfindung, der er in dem Roman Luft
schafft, seitdem er zu ihrer beiderseitigen Ruhe den Entschluß gefaßt, ihr Haus
zu meiden. So wurde auf Kestner's arglose Gestalt die des argwöhnischen
Jtalieners gepfropft und beide zu jenem unerträglichen Albert verschmolzen, der
Kestner dann so vielen Kummer bereitete. Die Sätze im „Werther": „Zieht ihn
nicht jedes elende Geschüft mehr an, als die theuere köstliche Frau? Weiß er
sein Glück zu schätzen? ... Und hat denn die Freundschaft zu mir Stich ge¬
halten? Sieht er nicht in meiner Anhänglichkeit an Lotten schon einen Ein¬
griff in seine Rechte, in meiner Aufmerksamkeit für sie einen stillen Vorwurf?
...Er sieht mich ungern, er wünscht meine Entfernung; meine Gegenwart ist
ihm beschwerlich", diese Sätze, sie könnten wörtlich so in Goethe's Briefen an
Frau von La Roche stehen. Dem Sinne nach stehen sie drin.
Frese hat, man sieht nicht ein warum, mit einer gewissen Gereiztheit diese
Auffassung bestritten, Loeper, der Herausgeber unserer Briefe und gegenwärtig
wohl der genaueste Kenner von Goethe's Leben, hat ihr simpel zugestimmt.
Die Zeit wird lehren, welche von beiden Meinungen sich Beifall erringen wird.
Die Grimm'sche Hypothese ist übrigens so alt wie der „Werther" selber ist. Lud-
milla Ussing hat bereits erzählt — was doch wohl auf Angaben Bettina's zurück¬
zuführen sein wird — daß gleich nach dem Erscheinen des „Werther" viele ge¬
funden hätten, „die liebliche Maximiliane habe mit zu Lottens Bild gesessen"
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