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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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Und gerade die Dichtkunst ist für die Religion ein noch angemesseneres Werk¬
zeug, als die anderen Künste. Alle Kunst ist Darstellung des Idealen in sinn¬
licher Gestalt; auch die Poesie ist sinnlicher Ausdruck des Idealen, weil die
Sprache ihr Darstellungsmittel ist und diese (als musikalisch tönende und
rhythmisch bewegte) neben der geistigen auch eine sinnliche Seite hat, wozu
noch kommt, daß die Poesie in anschaulichen Bildern, nicht in abstrakten Be¬
griffen redet. Aber Schiller läßt mit Recht die Poesie von sich sagen: "Mein
unermeßlich Reich ist der Gedanke, und mein geflügelt Werkzeug ist das Wort."
Daraus ergibt sich, daß die Poesie, wie die Religion, sich in dem Grenzgebiet
zwischen dem Element des Denkens einerseits und des Fühlens und Anschauens
andererseits bewegt, während keine einzige andere Kunst, obgleich sie Kunst ist,
Gedanken auszuprägen im Stande ist. Freilich*) "muß die Poesie die Ge¬
danken darstellen, wie sie ihr Echo oder ihren Quell im Herzen haben, von
der Wärme des Gefühls beseelt sind", und in anschaulicher Bildlichkeit sich
verkörpern, sonst wäre sie allerdings nicht Poesie. Aber sie stellt doch Vor¬
stellungen und Gedanken dar, und deswegen ist sie nach einer Seite hin das
angemessenste künstlerische Werkzeug für die Religion.

Die Poesie (und die Kunst überhaupt) ist jedoch nicht nur unentbehrliches
Werkzeug der Religion, sondern sie ist auch in ihrer Selbständigkeit der Reli¬
gion verwandt. Denn auch sie hat das Unendliche, Ideale, Göttliche zum
Gegenstande ihrer Darstellung. Gerade deshalb, weil das eigentliche Wesen
der Aufklärung in der Hinwendung zum Endlichen bestand, unterdrückte ja
diese gleichmäßig die wahre Poesie und die lebendige Religion, und trotz ihrer
Verknüpfung mit der Phantasie läßt sich von der Poesie sagen, daß sie Wahr¬
heit enthülle und Wahrheit verkörpere. Ein tiefer Gehalt des Geistes**) wird
von Bildnern und Dichtern ausgesprochen, die wie im Spiel die Lösung des
Welträthsels vor die Anschauung hinstellen, lange bevor die Philosophie sie für
die denkende Vernunft vollzieht. Im Schönen, hat man gesagt, "haben wir
ein Mysterium, das als ein leuchtender Punkt uns den Blick in das ewige
Wesen eröffnet, die Natur in Gott und Gott in der Natur kennen lehrt und
die Energie der Liebe und Freiheit als Grund, Band und Ziel der Welt offen¬
bart". Und Schiller singt vom Künstler:


"Ihm gaben die Götter das reine Gemüth,
Drin die Welt sich, die ewige spiegelt.
Er hat Alles gesehen, was auf Erden geschieht,
Und was noch die Zukunft versiegelt."



*) M. Carriere, Das Wesen und die Form der Poesie, Leipzig, 1864, S. 32.
**) Vgl. Carriere, a. a. O,, S. 13 f- und S, 9.

Und gerade die Dichtkunst ist für die Religion ein noch angemesseneres Werk¬
zeug, als die anderen Künste. Alle Kunst ist Darstellung des Idealen in sinn¬
licher Gestalt; auch die Poesie ist sinnlicher Ausdruck des Idealen, weil die
Sprache ihr Darstellungsmittel ist und diese (als musikalisch tönende und
rhythmisch bewegte) neben der geistigen auch eine sinnliche Seite hat, wozu
noch kommt, daß die Poesie in anschaulichen Bildern, nicht in abstrakten Be¬
griffen redet. Aber Schiller läßt mit Recht die Poesie von sich sagen: „Mein
unermeßlich Reich ist der Gedanke, und mein geflügelt Werkzeug ist das Wort."
Daraus ergibt sich, daß die Poesie, wie die Religion, sich in dem Grenzgebiet
zwischen dem Element des Denkens einerseits und des Fühlens und Anschauens
andererseits bewegt, während keine einzige andere Kunst, obgleich sie Kunst ist,
Gedanken auszuprägen im Stande ist. Freilich*) „muß die Poesie die Ge¬
danken darstellen, wie sie ihr Echo oder ihren Quell im Herzen haben, von
der Wärme des Gefühls beseelt sind", und in anschaulicher Bildlichkeit sich
verkörpern, sonst wäre sie allerdings nicht Poesie. Aber sie stellt doch Vor¬
stellungen und Gedanken dar, und deswegen ist sie nach einer Seite hin das
angemessenste künstlerische Werkzeug für die Religion.

Die Poesie (und die Kunst überhaupt) ist jedoch nicht nur unentbehrliches
Werkzeug der Religion, sondern sie ist auch in ihrer Selbständigkeit der Reli¬
gion verwandt. Denn auch sie hat das Unendliche, Ideale, Göttliche zum
Gegenstande ihrer Darstellung. Gerade deshalb, weil das eigentliche Wesen
der Aufklärung in der Hinwendung zum Endlichen bestand, unterdrückte ja
diese gleichmäßig die wahre Poesie und die lebendige Religion, und trotz ihrer
Verknüpfung mit der Phantasie läßt sich von der Poesie sagen, daß sie Wahr¬
heit enthülle und Wahrheit verkörpere. Ein tiefer Gehalt des Geistes**) wird
von Bildnern und Dichtern ausgesprochen, die wie im Spiel die Lösung des
Welträthsels vor die Anschauung hinstellen, lange bevor die Philosophie sie für
die denkende Vernunft vollzieht. Im Schönen, hat man gesagt, „haben wir
ein Mysterium, das als ein leuchtender Punkt uns den Blick in das ewige
Wesen eröffnet, die Natur in Gott und Gott in der Natur kennen lehrt und
die Energie der Liebe und Freiheit als Grund, Band und Ziel der Welt offen¬
bart". Und Schiller singt vom Künstler:


„Ihm gaben die Götter das reine Gemüth,
Drin die Welt sich, die ewige spiegelt.
Er hat Alles gesehen, was auf Erden geschieht,
Und was noch die Zukunft versiegelt."



*) M. Carriere, Das Wesen und die Form der Poesie, Leipzig, 1864, S. 32.
**) Vgl. Carriere, a. a. O,, S. 13 f- und S, 9.
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[0318] Und gerade die Dichtkunst ist für die Religion ein noch angemesseneres Werk¬ zeug, als die anderen Künste. Alle Kunst ist Darstellung des Idealen in sinn¬ licher Gestalt; auch die Poesie ist sinnlicher Ausdruck des Idealen, weil die Sprache ihr Darstellungsmittel ist und diese (als musikalisch tönende und rhythmisch bewegte) neben der geistigen auch eine sinnliche Seite hat, wozu noch kommt, daß die Poesie in anschaulichen Bildern, nicht in abstrakten Be¬ griffen redet. Aber Schiller läßt mit Recht die Poesie von sich sagen: „Mein unermeßlich Reich ist der Gedanke, und mein geflügelt Werkzeug ist das Wort." Daraus ergibt sich, daß die Poesie, wie die Religion, sich in dem Grenzgebiet zwischen dem Element des Denkens einerseits und des Fühlens und Anschauens andererseits bewegt, während keine einzige andere Kunst, obgleich sie Kunst ist, Gedanken auszuprägen im Stande ist. Freilich*) „muß die Poesie die Ge¬ danken darstellen, wie sie ihr Echo oder ihren Quell im Herzen haben, von der Wärme des Gefühls beseelt sind", und in anschaulicher Bildlichkeit sich verkörpern, sonst wäre sie allerdings nicht Poesie. Aber sie stellt doch Vor¬ stellungen und Gedanken dar, und deswegen ist sie nach einer Seite hin das angemessenste künstlerische Werkzeug für die Religion. Die Poesie (und die Kunst überhaupt) ist jedoch nicht nur unentbehrliches Werkzeug der Religion, sondern sie ist auch in ihrer Selbständigkeit der Reli¬ gion verwandt. Denn auch sie hat das Unendliche, Ideale, Göttliche zum Gegenstande ihrer Darstellung. Gerade deshalb, weil das eigentliche Wesen der Aufklärung in der Hinwendung zum Endlichen bestand, unterdrückte ja diese gleichmäßig die wahre Poesie und die lebendige Religion, und trotz ihrer Verknüpfung mit der Phantasie läßt sich von der Poesie sagen, daß sie Wahr¬ heit enthülle und Wahrheit verkörpere. Ein tiefer Gehalt des Geistes**) wird von Bildnern und Dichtern ausgesprochen, die wie im Spiel die Lösung des Welträthsels vor die Anschauung hinstellen, lange bevor die Philosophie sie für die denkende Vernunft vollzieht. Im Schönen, hat man gesagt, „haben wir ein Mysterium, das als ein leuchtender Punkt uns den Blick in das ewige Wesen eröffnet, die Natur in Gott und Gott in der Natur kennen lehrt und die Energie der Liebe und Freiheit als Grund, Band und Ziel der Welt offen¬ bart". Und Schiller singt vom Künstler: „Ihm gaben die Götter das reine Gemüth, Drin die Welt sich, die ewige spiegelt. Er hat Alles gesehen, was auf Erden geschieht, Und was noch die Zukunft versiegelt." *) M. Carriere, Das Wesen und die Form der Poesie, Leipzig, 1864, S. 32. **) Vgl. Carriere, a. a. O,, S. 13 f- und S, 9.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/318>, abgerufen am 23.07.2024.