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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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Demnach würde also die Kunst das Welträthsel lösen und im Schönen das
Wahre enthüllen. Ja noch mehr: Eine erlösende Kraft, eine friedeverleihende,
versöhnende, tröstende Wirkung schreiben der Kunst ihre Priester zu. Dicht¬
kunst und Tonkunst im Bunde miteinander heilen, sagt man, alle Schmerzen.
Wir können auch weder jenes, noch dieses lediglich in Abrede stellen. Man
kann, wenn auch sicherlich nicht in jedem, doch in einem gewissen Sinne sagen:
Goethe, der Dichter, hat Gott und die Welt noch besser gedeutet, als Kant,
der Philosoph. Man kann ferner sagen: die genialsten Blicke, die einem
Schelling vergönnt waren, hat der poetische Genius gethan, der ihn erfüllte
und der in Schelling vielleicht mächtiger war, als die strenge Philosophie.
Denn Schelling ist der romantische Philosoph. Es gibt Dinge, welche für den
Verstand nicht meßbar sind, ebensowenig darstellbar; und wenn unser Bild vom
Universum, insofern es nur aus dem streng wissenschaftlich Erwiesenen bestünde,
noch kein Ganzes wäre, weil unser eigentliches Wissen (im strengen Sinne des
Wortes) begrenzt ist, also der Ergänzung bedarf: dann muß ergänzend hinzu¬
treten, was Phantasie und Gefühl ahnen, weil sonst unser Bild von den gött¬
lichen und menschlichen Dingen lückenhaft bleibt. Diese ergänzende Erkenntniß
durch Ahnung vollzieht aber nicht nur die Religion, sondern auch die dichte¬
rische Phantasie. Und wie könnte man leugnen, daß auch der Kunstgenuß ver¬
söhnend, tröstend und heilend wirkt? Die Kunst verklärt die Natur mit ihren
Schrecken, sie verschleiert und verhüllt das Elend der Welt. Aber freilich: wo
sie mehr leisten sollte, da müßte doch erst der tiefste Zwiespalt im Innern des
Menschen schon geheilt sein. Der Kunstgenuß kann nicht ein reines Gewissen
schaffen, kann nicht die Sündenvergebung ersetzen, und hier liegt die Schranke
der Kunst gegenüber der Religion. Die Schönheit von Raphael's Madonnen,
von Beethoven's Messe, von Goethe's "Iphigenie" kann uns hinreißen, ohne daß
unser aesthetisches Gewissen einen nachhaltigen Einfluß auf unsere sittlichen
Grundsätze und Entschließungen ausübt.*) Veredelnd wird allerdings die Kunst
überall wirken; eine gewisse Rohheit muß ihr immer weichen. Daher konnte
ein echter Grieche kein Barbar werden. Aber das Edle verdorrt, wenn seine
Wurzel nicht das Gute ist, und die Geschichte zeigt genug Beispiele eines
Nebeneinanderhergehens des höchsten Kunstenthusiasmus und des sittlichen Ver¬
derbens, z. B. in Florenz und Rom im Zeitalter Leo's X.

Unsere Betrachtung war eine vorwiegend geschichtliche, doch schlössen sich
einige theoretische Andeutungen daran an. Sollen wir schließlich einige prak¬
tische Ergebnisse aus ersteren und aus letzteren herausziehen, so werden es
diese sein müssen: wir sollen uns bewußt bleiben, daß wir an unserer Religion



Vgl. O. Pfleiderer, a, a. O., S. 179.

Demnach würde also die Kunst das Welträthsel lösen und im Schönen das
Wahre enthüllen. Ja noch mehr: Eine erlösende Kraft, eine friedeverleihende,
versöhnende, tröstende Wirkung schreiben der Kunst ihre Priester zu. Dicht¬
kunst und Tonkunst im Bunde miteinander heilen, sagt man, alle Schmerzen.
Wir können auch weder jenes, noch dieses lediglich in Abrede stellen. Man
kann, wenn auch sicherlich nicht in jedem, doch in einem gewissen Sinne sagen:
Goethe, der Dichter, hat Gott und die Welt noch besser gedeutet, als Kant,
der Philosoph. Man kann ferner sagen: die genialsten Blicke, die einem
Schelling vergönnt waren, hat der poetische Genius gethan, der ihn erfüllte
und der in Schelling vielleicht mächtiger war, als die strenge Philosophie.
Denn Schelling ist der romantische Philosoph. Es gibt Dinge, welche für den
Verstand nicht meßbar sind, ebensowenig darstellbar; und wenn unser Bild vom
Universum, insofern es nur aus dem streng wissenschaftlich Erwiesenen bestünde,
noch kein Ganzes wäre, weil unser eigentliches Wissen (im strengen Sinne des
Wortes) begrenzt ist, also der Ergänzung bedarf: dann muß ergänzend hinzu¬
treten, was Phantasie und Gefühl ahnen, weil sonst unser Bild von den gött¬
lichen und menschlichen Dingen lückenhaft bleibt. Diese ergänzende Erkenntniß
durch Ahnung vollzieht aber nicht nur die Religion, sondern auch die dichte¬
rische Phantasie. Und wie könnte man leugnen, daß auch der Kunstgenuß ver¬
söhnend, tröstend und heilend wirkt? Die Kunst verklärt die Natur mit ihren
Schrecken, sie verschleiert und verhüllt das Elend der Welt. Aber freilich: wo
sie mehr leisten sollte, da müßte doch erst der tiefste Zwiespalt im Innern des
Menschen schon geheilt sein. Der Kunstgenuß kann nicht ein reines Gewissen
schaffen, kann nicht die Sündenvergebung ersetzen, und hier liegt die Schranke
der Kunst gegenüber der Religion. Die Schönheit von Raphael's Madonnen,
von Beethoven's Messe, von Goethe's „Iphigenie" kann uns hinreißen, ohne daß
unser aesthetisches Gewissen einen nachhaltigen Einfluß auf unsere sittlichen
Grundsätze und Entschließungen ausübt.*) Veredelnd wird allerdings die Kunst
überall wirken; eine gewisse Rohheit muß ihr immer weichen. Daher konnte
ein echter Grieche kein Barbar werden. Aber das Edle verdorrt, wenn seine
Wurzel nicht das Gute ist, und die Geschichte zeigt genug Beispiele eines
Nebeneinanderhergehens des höchsten Kunstenthusiasmus und des sittlichen Ver¬
derbens, z. B. in Florenz und Rom im Zeitalter Leo's X.

Unsere Betrachtung war eine vorwiegend geschichtliche, doch schlössen sich
einige theoretische Andeutungen daran an. Sollen wir schließlich einige prak¬
tische Ergebnisse aus ersteren und aus letzteren herausziehen, so werden es
diese sein müssen: wir sollen uns bewußt bleiben, daß wir an unserer Religion



Vgl. O. Pfleiderer, a, a. O., S. 179.
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[0319] Demnach würde also die Kunst das Welträthsel lösen und im Schönen das Wahre enthüllen. Ja noch mehr: Eine erlösende Kraft, eine friedeverleihende, versöhnende, tröstende Wirkung schreiben der Kunst ihre Priester zu. Dicht¬ kunst und Tonkunst im Bunde miteinander heilen, sagt man, alle Schmerzen. Wir können auch weder jenes, noch dieses lediglich in Abrede stellen. Man kann, wenn auch sicherlich nicht in jedem, doch in einem gewissen Sinne sagen: Goethe, der Dichter, hat Gott und die Welt noch besser gedeutet, als Kant, der Philosoph. Man kann ferner sagen: die genialsten Blicke, die einem Schelling vergönnt waren, hat der poetische Genius gethan, der ihn erfüllte und der in Schelling vielleicht mächtiger war, als die strenge Philosophie. Denn Schelling ist der romantische Philosoph. Es gibt Dinge, welche für den Verstand nicht meßbar sind, ebensowenig darstellbar; und wenn unser Bild vom Universum, insofern es nur aus dem streng wissenschaftlich Erwiesenen bestünde, noch kein Ganzes wäre, weil unser eigentliches Wissen (im strengen Sinne des Wortes) begrenzt ist, also der Ergänzung bedarf: dann muß ergänzend hinzu¬ treten, was Phantasie und Gefühl ahnen, weil sonst unser Bild von den gött¬ lichen und menschlichen Dingen lückenhaft bleibt. Diese ergänzende Erkenntniß durch Ahnung vollzieht aber nicht nur die Religion, sondern auch die dichte¬ rische Phantasie. Und wie könnte man leugnen, daß auch der Kunstgenuß ver¬ söhnend, tröstend und heilend wirkt? Die Kunst verklärt die Natur mit ihren Schrecken, sie verschleiert und verhüllt das Elend der Welt. Aber freilich: wo sie mehr leisten sollte, da müßte doch erst der tiefste Zwiespalt im Innern des Menschen schon geheilt sein. Der Kunstgenuß kann nicht ein reines Gewissen schaffen, kann nicht die Sündenvergebung ersetzen, und hier liegt die Schranke der Kunst gegenüber der Religion. Die Schönheit von Raphael's Madonnen, von Beethoven's Messe, von Goethe's „Iphigenie" kann uns hinreißen, ohne daß unser aesthetisches Gewissen einen nachhaltigen Einfluß auf unsere sittlichen Grundsätze und Entschließungen ausübt.*) Veredelnd wird allerdings die Kunst überall wirken; eine gewisse Rohheit muß ihr immer weichen. Daher konnte ein echter Grieche kein Barbar werden. Aber das Edle verdorrt, wenn seine Wurzel nicht das Gute ist, und die Geschichte zeigt genug Beispiele eines Nebeneinanderhergehens des höchsten Kunstenthusiasmus und des sittlichen Ver¬ derbens, z. B. in Florenz und Rom im Zeitalter Leo's X. Unsere Betrachtung war eine vorwiegend geschichtliche, doch schlössen sich einige theoretische Andeutungen daran an. Sollen wir schließlich einige prak¬ tische Ergebnisse aus ersteren und aus letzteren herausziehen, so werden es diese sein müssen: wir sollen uns bewußt bleiben, daß wir an unserer Religion Vgl. O. Pfleiderer, a, a. O., S. 179.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/319>, abgerufen am 03.07.2024.