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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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innerlich verwandten Völker, welche namentlich im Osten in schneller Reihen¬
folge unterworfen wurden, zur Zentralisation, weil das eigentlich russische Volk
in feiner Gesammtheit noch auf lange hinaus unfähig ist, einen geistigen Druck,
eine "moralische Eroberung" im besten Sinne des Wortes, auszuüben. Die
äußere Uniformität mußte vorläufig den Mangel eines inneren Bandes verdecken.

Absolutismus und Zentralisation, welche in Rußland, wie überall, Hand
in Hand gingen, mußten Alles andere ersetzen, und die Zeit wird es lehren,
ob nicht sogar jetzt noch die wohlwollende Hand des Kaisers zu früh Fesseln
gesprengt hat, welche ein mächtiges Band gegen destruktive Tendenzen bildeten.

Wenn die Russen durch die Verbindung des Absolutismus und der
Zentralisation aller politischen und persönlichen Freiheit beraubt worden sind,
so hat dies Jahrhunderte alte System natürlich auch auf die Bildung des ganzen
Volkscharakters tiefen Einfluß gehabt. Die Hanptschwierigkeiten, denen die
liberalen Maßregeln des Kaisers und seiner wirklich treugesinnten Beamten
jetzt begegnen, sind in der Unfähigkeit der Massen begründet, irgend eine Art
von Selbstregierung oder nnr Selbstverwaltung aus sich heraus zu organisiren.
Diese Stumpfheit, die nicht selten in einen zähen passiven Widerstand gegen
das ungewohnte Neue und Bessere ausartet, ist die festeste Stütze jener Kama¬
rilla, welche in den nächsten Verwandten des Kaisers vertreten ist. Diese
Opposition könnte nicht so mächtig wirken, wenn.sie nicht auf der breiten Grund¬
lage nationalen Stumpfsinns wurzelte. Das jetzige Geschlecht und wohl auch
noch die zweite, vielleicht die dritte Generation werden in's Grab sinken müssen,
ehe der so lange gefesselte Volksgeist lernen wird, seine mächtigen Gliedmaßen
zu gebrauchen. Jene reaktionäre Partei ist, freilich sehr gegen ihren Willen,
die beste Freundin des von ihr bitter befeindeten Germanenthums; so lange
sie noch mit solcher Macht und solchem Erfolge, wie es der Beginn des russischen
Feldzuges und sein unheilvoller Verlauf bis zum Ende des Monat September
1877 zeigte, den Reformplänen des Kaisers entgegenwirken kann, so lange ist
jede Art von Russenfurcht unbegründet. Ehe nicht dieser tiefe Zwiespalt aus¬
geglichen ist, der jetzt das große Reich zertheilt, ist keine Möglichkeit vorhanden,
daß es dauernd der Entwickelung Deutschland's gefährlich würde anders als
durch Alliance mit unseren Feinden. Die aufgeklärten Russen selbst verschließen
sich keineswegs vor der Erkenntniß dieser Uebelstände, aber bisher erschien die
Zentralisation als nothwendiges Uebel, da eben der Mangel an geeignetem
Beamtenmaterial dazu zwang. Nun aber ist die Wechselwirkung unbestreitbar,
daß durch dieses System der alles umfassenden Bevormundung auch der Kemi
erstickt wurde, aus dem eine selbständige, geistig frei wirkende Bureaukratie
wie in England oder Deutschland sich hätte entwickeln können. Das Heilmittel
macht das Uebel permanent. Die Leitung von Petersburg aus will ersetzen


Grenzboten I. 1879. S4

innerlich verwandten Völker, welche namentlich im Osten in schneller Reihen¬
folge unterworfen wurden, zur Zentralisation, weil das eigentlich russische Volk
in feiner Gesammtheit noch auf lange hinaus unfähig ist, einen geistigen Druck,
eine „moralische Eroberung" im besten Sinne des Wortes, auszuüben. Die
äußere Uniformität mußte vorläufig den Mangel eines inneren Bandes verdecken.

Absolutismus und Zentralisation, welche in Rußland, wie überall, Hand
in Hand gingen, mußten Alles andere ersetzen, und die Zeit wird es lehren,
ob nicht sogar jetzt noch die wohlwollende Hand des Kaisers zu früh Fesseln
gesprengt hat, welche ein mächtiges Band gegen destruktive Tendenzen bildeten.

Wenn die Russen durch die Verbindung des Absolutismus und der
Zentralisation aller politischen und persönlichen Freiheit beraubt worden sind,
so hat dies Jahrhunderte alte System natürlich auch auf die Bildung des ganzen
Volkscharakters tiefen Einfluß gehabt. Die Hanptschwierigkeiten, denen die
liberalen Maßregeln des Kaisers und seiner wirklich treugesinnten Beamten
jetzt begegnen, sind in der Unfähigkeit der Massen begründet, irgend eine Art
von Selbstregierung oder nnr Selbstverwaltung aus sich heraus zu organisiren.
Diese Stumpfheit, die nicht selten in einen zähen passiven Widerstand gegen
das ungewohnte Neue und Bessere ausartet, ist die festeste Stütze jener Kama¬
rilla, welche in den nächsten Verwandten des Kaisers vertreten ist. Diese
Opposition könnte nicht so mächtig wirken, wenn.sie nicht auf der breiten Grund¬
lage nationalen Stumpfsinns wurzelte. Das jetzige Geschlecht und wohl auch
noch die zweite, vielleicht die dritte Generation werden in's Grab sinken müssen,
ehe der so lange gefesselte Volksgeist lernen wird, seine mächtigen Gliedmaßen
zu gebrauchen. Jene reaktionäre Partei ist, freilich sehr gegen ihren Willen,
die beste Freundin des von ihr bitter befeindeten Germanenthums; so lange
sie noch mit solcher Macht und solchem Erfolge, wie es der Beginn des russischen
Feldzuges und sein unheilvoller Verlauf bis zum Ende des Monat September
1877 zeigte, den Reformplänen des Kaisers entgegenwirken kann, so lange ist
jede Art von Russenfurcht unbegründet. Ehe nicht dieser tiefe Zwiespalt aus¬
geglichen ist, der jetzt das große Reich zertheilt, ist keine Möglichkeit vorhanden,
daß es dauernd der Entwickelung Deutschland's gefährlich würde anders als
durch Alliance mit unseren Feinden. Die aufgeklärten Russen selbst verschließen
sich keineswegs vor der Erkenntniß dieser Uebelstände, aber bisher erschien die
Zentralisation als nothwendiges Uebel, da eben der Mangel an geeignetem
Beamtenmaterial dazu zwang. Nun aber ist die Wechselwirkung unbestreitbar,
daß durch dieses System der alles umfassenden Bevormundung auch der Kemi
erstickt wurde, aus dem eine selbständige, geistig frei wirkende Bureaukratie
wie in England oder Deutschland sich hätte entwickeln können. Das Heilmittel
macht das Uebel permanent. Die Leitung von Petersburg aus will ersetzen


Grenzboten I. 1879. S4
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[0269] innerlich verwandten Völker, welche namentlich im Osten in schneller Reihen¬ folge unterworfen wurden, zur Zentralisation, weil das eigentlich russische Volk in feiner Gesammtheit noch auf lange hinaus unfähig ist, einen geistigen Druck, eine „moralische Eroberung" im besten Sinne des Wortes, auszuüben. Die äußere Uniformität mußte vorläufig den Mangel eines inneren Bandes verdecken. Absolutismus und Zentralisation, welche in Rußland, wie überall, Hand in Hand gingen, mußten Alles andere ersetzen, und die Zeit wird es lehren, ob nicht sogar jetzt noch die wohlwollende Hand des Kaisers zu früh Fesseln gesprengt hat, welche ein mächtiges Band gegen destruktive Tendenzen bildeten. Wenn die Russen durch die Verbindung des Absolutismus und der Zentralisation aller politischen und persönlichen Freiheit beraubt worden sind, so hat dies Jahrhunderte alte System natürlich auch auf die Bildung des ganzen Volkscharakters tiefen Einfluß gehabt. Die Hanptschwierigkeiten, denen die liberalen Maßregeln des Kaisers und seiner wirklich treugesinnten Beamten jetzt begegnen, sind in der Unfähigkeit der Massen begründet, irgend eine Art von Selbstregierung oder nnr Selbstverwaltung aus sich heraus zu organisiren. Diese Stumpfheit, die nicht selten in einen zähen passiven Widerstand gegen das ungewohnte Neue und Bessere ausartet, ist die festeste Stütze jener Kama¬ rilla, welche in den nächsten Verwandten des Kaisers vertreten ist. Diese Opposition könnte nicht so mächtig wirken, wenn.sie nicht auf der breiten Grund¬ lage nationalen Stumpfsinns wurzelte. Das jetzige Geschlecht und wohl auch noch die zweite, vielleicht die dritte Generation werden in's Grab sinken müssen, ehe der so lange gefesselte Volksgeist lernen wird, seine mächtigen Gliedmaßen zu gebrauchen. Jene reaktionäre Partei ist, freilich sehr gegen ihren Willen, die beste Freundin des von ihr bitter befeindeten Germanenthums; so lange sie noch mit solcher Macht und solchem Erfolge, wie es der Beginn des russischen Feldzuges und sein unheilvoller Verlauf bis zum Ende des Monat September 1877 zeigte, den Reformplänen des Kaisers entgegenwirken kann, so lange ist jede Art von Russenfurcht unbegründet. Ehe nicht dieser tiefe Zwiespalt aus¬ geglichen ist, der jetzt das große Reich zertheilt, ist keine Möglichkeit vorhanden, daß es dauernd der Entwickelung Deutschland's gefährlich würde anders als durch Alliance mit unseren Feinden. Die aufgeklärten Russen selbst verschließen sich keineswegs vor der Erkenntniß dieser Uebelstände, aber bisher erschien die Zentralisation als nothwendiges Uebel, da eben der Mangel an geeignetem Beamtenmaterial dazu zwang. Nun aber ist die Wechselwirkung unbestreitbar, daß durch dieses System der alles umfassenden Bevormundung auch der Kemi erstickt wurde, aus dem eine selbständige, geistig frei wirkende Bureaukratie wie in England oder Deutschland sich hätte entwickeln können. Das Heilmittel macht das Uebel permanent. Die Leitung von Petersburg aus will ersetzen Grenzboten I. 1879. S4

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/269>, abgerufen am 24.07.2024.