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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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Und die Erleichterung der Verkehrsmittel, welche unser Jahrhundert geschaffen,
und welche zweifellos noch zunehmen wird, sie wird den Prozeß der Unifor-
mirung nur noch beschleunigen, anstatt eine autonome Entwickelung zu be¬
günstigen. Auch hierin bietet Nußland einen scharfen Gegensatz zur Türkei.
Die eigentlichen Türken wohnen versprengt inmitten fremder Nationalitüten.
Alle die Deutschen dagegen, die Esthen, Finnen, Armenier, Rumänier, Polen
-- Asien's schwache Nvmadenhorden bieten die wenigsten Verschiedenheiten --
wohnen am Rande der einen großen russischen Familie und müssen mehr oder
weniger durch das Mißverhältniß der Zahl trotz theilweise höherer Kultur von
ihr aufgesogen werden. Wenn ich sage "russische Volksfamilie", so ist der
Ausdruck mit Bedacht gewählt. Nicht umsonst ist dem Russen sein Vaterland
"die heilige Mutter", sein Czar sein "Väterchen", und so gewaltig ist der
Familiensinn in der Seele dieses Volkes thätig, daß dem Russen auch der
verächtlichste Tschinownik (Beamte), den er vielleicht im Augenblicke durch
Bestechung entwürdigt, im Abglanz der Regierungshoheit immer noch "Väter¬
chen" ist. Kein Volk der Erde, vielleicht die Chinesen ausgenommen, fühlt sich
so eins mit dem ganzen großen Vaterlande. Daher kennt der Russe auch weder
den Partikularismus, noch die Kirchthurmsinteressen seiner westlichen Nachbarn.
Leichter Sinnes verläßt er seinen Heimatsort und wandert nach weit entfernten
Gegenden; ist er doch überall bei seiner "heiligen Mutter". Ja, kein Volk
liebt vielleicht mehr den Ortswechsel, wie die Reisen und Pilgerfahrten des
Russen, zahllos im Jahre, darthun. Aber stets bleibt er im Lande. Zur
Auswanderung gehören ganz außerordentliche Triebfedern; vielleicht ist außer
dem Fanatismus des Sektirers keine mächtig genug, den Nationalrussen in's
Ausland zu treiben.

Es liegt auf der Hand, wie ein solcher Volkscharakter dem Bestreben der
Regierung in die Hände arbeiten muß. Daneben aber zwang der schnelle
Ländererwerb, zu dem die Regierung im Osten wenigstens ebenso oft durch
äußere Verhältnisse gezwungen worden ist, als sie im Westen ihn bewußt er¬
strebte, zur straffen Zentralisation, um den großen aber innerlich noch nicht
gefestigten, ausgewachsenen Staatskörper vor zentrifugalen Tendenzen zu be¬
wahren, die ihm auf seiner weiteren Bahn hätten unbequem werden können.
Wurden doch mitunter solche Bestrebungen des Widerstandes dem jungen Staate
wirklich gefährlich; daher die furchtbare Härte, mit der man den Besiegten von
einer Wiederholung abzuschrecken suchte, eine Härte, die sonst nicht im russischen
Charakter liegt. Letzteres beweist wenigstens die oft sehr milde Behandlung
oft recht tückischer Gegner, mit denen die Russen im Osten des Reiches früher
wie jetzt zu thun hatten, die aber dem großen Ganzen nie gefährlich werden
konnten. Sicherlich nöthigte das Konglomerat der verschiedenartigen, und doch


Und die Erleichterung der Verkehrsmittel, welche unser Jahrhundert geschaffen,
und welche zweifellos noch zunehmen wird, sie wird den Prozeß der Unifor-
mirung nur noch beschleunigen, anstatt eine autonome Entwickelung zu be¬
günstigen. Auch hierin bietet Nußland einen scharfen Gegensatz zur Türkei.
Die eigentlichen Türken wohnen versprengt inmitten fremder Nationalitüten.
Alle die Deutschen dagegen, die Esthen, Finnen, Armenier, Rumänier, Polen
— Asien's schwache Nvmadenhorden bieten die wenigsten Verschiedenheiten —
wohnen am Rande der einen großen russischen Familie und müssen mehr oder
weniger durch das Mißverhältniß der Zahl trotz theilweise höherer Kultur von
ihr aufgesogen werden. Wenn ich sage „russische Volksfamilie", so ist der
Ausdruck mit Bedacht gewählt. Nicht umsonst ist dem Russen sein Vaterland
„die heilige Mutter", sein Czar sein „Väterchen", und so gewaltig ist der
Familiensinn in der Seele dieses Volkes thätig, daß dem Russen auch der
verächtlichste Tschinownik (Beamte), den er vielleicht im Augenblicke durch
Bestechung entwürdigt, im Abglanz der Regierungshoheit immer noch „Väter¬
chen" ist. Kein Volk der Erde, vielleicht die Chinesen ausgenommen, fühlt sich
so eins mit dem ganzen großen Vaterlande. Daher kennt der Russe auch weder
den Partikularismus, noch die Kirchthurmsinteressen seiner westlichen Nachbarn.
Leichter Sinnes verläßt er seinen Heimatsort und wandert nach weit entfernten
Gegenden; ist er doch überall bei seiner „heiligen Mutter". Ja, kein Volk
liebt vielleicht mehr den Ortswechsel, wie die Reisen und Pilgerfahrten des
Russen, zahllos im Jahre, darthun. Aber stets bleibt er im Lande. Zur
Auswanderung gehören ganz außerordentliche Triebfedern; vielleicht ist außer
dem Fanatismus des Sektirers keine mächtig genug, den Nationalrussen in's
Ausland zu treiben.

Es liegt auf der Hand, wie ein solcher Volkscharakter dem Bestreben der
Regierung in die Hände arbeiten muß. Daneben aber zwang der schnelle
Ländererwerb, zu dem die Regierung im Osten wenigstens ebenso oft durch
äußere Verhältnisse gezwungen worden ist, als sie im Westen ihn bewußt er¬
strebte, zur straffen Zentralisation, um den großen aber innerlich noch nicht
gefestigten, ausgewachsenen Staatskörper vor zentrifugalen Tendenzen zu be¬
wahren, die ihm auf seiner weiteren Bahn hätten unbequem werden können.
Wurden doch mitunter solche Bestrebungen des Widerstandes dem jungen Staate
wirklich gefährlich; daher die furchtbare Härte, mit der man den Besiegten von
einer Wiederholung abzuschrecken suchte, eine Härte, die sonst nicht im russischen
Charakter liegt. Letzteres beweist wenigstens die oft sehr milde Behandlung
oft recht tückischer Gegner, mit denen die Russen im Osten des Reiches früher
wie jetzt zu thun hatten, die aber dem großen Ganzen nie gefährlich werden
konnten. Sicherlich nöthigte das Konglomerat der verschiedenartigen, und doch


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[0268] Und die Erleichterung der Verkehrsmittel, welche unser Jahrhundert geschaffen, und welche zweifellos noch zunehmen wird, sie wird den Prozeß der Unifor- mirung nur noch beschleunigen, anstatt eine autonome Entwickelung zu be¬ günstigen. Auch hierin bietet Nußland einen scharfen Gegensatz zur Türkei. Die eigentlichen Türken wohnen versprengt inmitten fremder Nationalitüten. Alle die Deutschen dagegen, die Esthen, Finnen, Armenier, Rumänier, Polen — Asien's schwache Nvmadenhorden bieten die wenigsten Verschiedenheiten — wohnen am Rande der einen großen russischen Familie und müssen mehr oder weniger durch das Mißverhältniß der Zahl trotz theilweise höherer Kultur von ihr aufgesogen werden. Wenn ich sage „russische Volksfamilie", so ist der Ausdruck mit Bedacht gewählt. Nicht umsonst ist dem Russen sein Vaterland „die heilige Mutter", sein Czar sein „Väterchen", und so gewaltig ist der Familiensinn in der Seele dieses Volkes thätig, daß dem Russen auch der verächtlichste Tschinownik (Beamte), den er vielleicht im Augenblicke durch Bestechung entwürdigt, im Abglanz der Regierungshoheit immer noch „Väter¬ chen" ist. Kein Volk der Erde, vielleicht die Chinesen ausgenommen, fühlt sich so eins mit dem ganzen großen Vaterlande. Daher kennt der Russe auch weder den Partikularismus, noch die Kirchthurmsinteressen seiner westlichen Nachbarn. Leichter Sinnes verläßt er seinen Heimatsort und wandert nach weit entfernten Gegenden; ist er doch überall bei seiner „heiligen Mutter". Ja, kein Volk liebt vielleicht mehr den Ortswechsel, wie die Reisen und Pilgerfahrten des Russen, zahllos im Jahre, darthun. Aber stets bleibt er im Lande. Zur Auswanderung gehören ganz außerordentliche Triebfedern; vielleicht ist außer dem Fanatismus des Sektirers keine mächtig genug, den Nationalrussen in's Ausland zu treiben. Es liegt auf der Hand, wie ein solcher Volkscharakter dem Bestreben der Regierung in die Hände arbeiten muß. Daneben aber zwang der schnelle Ländererwerb, zu dem die Regierung im Osten wenigstens ebenso oft durch äußere Verhältnisse gezwungen worden ist, als sie im Westen ihn bewußt er¬ strebte, zur straffen Zentralisation, um den großen aber innerlich noch nicht gefestigten, ausgewachsenen Staatskörper vor zentrifugalen Tendenzen zu be¬ wahren, die ihm auf seiner weiteren Bahn hätten unbequem werden können. Wurden doch mitunter solche Bestrebungen des Widerstandes dem jungen Staate wirklich gefährlich; daher die furchtbare Härte, mit der man den Besiegten von einer Wiederholung abzuschrecken suchte, eine Härte, die sonst nicht im russischen Charakter liegt. Letzteres beweist wenigstens die oft sehr milde Behandlung oft recht tückischer Gegner, mit denen die Russen im Osten des Reiches früher wie jetzt zu thun hatten, die aber dem großen Ganzen nie gefährlich werden konnten. Sicherlich nöthigte das Konglomerat der verschiedenartigen, und doch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/268>, abgerufen am 24.07.2024.