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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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seinen Ausgangspunkt in Frankreich und zwar in der französischen Revolution
hat, und als dessen Produkte die Theorieen von der Souverüuetät des Gesetzes
und des Richterstandes, die haarscharfe Trennung zwischen Gerechtigkeitspflege
und Verwaltung, zwischen gesetzgebender und vollziehender Gewalt, die Masse
der Kodifikationen, die leidenschaftliche Gesetzmacherei und die übergroße Be¬
deutung, die man dem Rechtsformalismus zuschreibt, zu betrachten sind. Schon
Plciton aber hat darauf hingewiesen, daß die Gesetze nicht das ganze Leben
des Staates erschöpfen, und neuere Schriftsteller, darunter Doktrinäre vom
reinsten Wasser wie Constant, haben, vielleicht unbewußt, dieselbe Ueberzeugung
ausgesprochen. Ist das richtig, so kaun es unmöglich eine nothwendige Eigen¬
thümlichkeit unserer modernen Staaten sein, daß ihr ganzes Leben in der An¬
fertigung und Aufrechthaltung von Gesetzen verstieße. Der Unterschied der
Gesetze und Rechtsansichten der zivilisirten Völker ist, wie Held bemerkt, ein
geringer. Dies gilt auch von dem öffentlichen Rechte derselben, denn alle
werden, wenn wir von Rußland absehen, vom Konstitutionalismus beherrscht.
Dies alles hindert aber die Selbständigkeit der verschiedenen Staaten nicht,
und so "muß die Eigenthümlichkeit der Völkerindividualitäten nicht sowohl an
dem in Gesetzen formell hervortretenden Ausdruck ihrer Rechtsüberzeugung
als vielmehr an der inneren Auffassung des Rechtsgedankens, an der Art
und dem Maße seiner Bethätigung im ganzen Leben des Volkes, an seinen
juristisch nicht formulirbaren Grundideen und an allen den vielen Dingen
hängen, die gleichfalls nicht juristisch formulirt werden können, sich aber gerade
an die tieferen nationalen Eigenthümlichkeiten anschließen, welche eben durch
jene Grundideen hervorgerufen und dadurch innerlich bedeutungsvoll werden."

Eine große Masse von wichtigen Dingen entzieht sich gänzlich oder theil¬
weise der Bestimmung durch Gesetze; denn im Staate muß Freiheit sein. Keine
Tugend läßt sich gesetzlich vorschreiben oder gar erzwingen, jede ist Produkt
der sittlichen Arbeit des betreffenden Individuums. Wie viel ließe sich wohl
ohne die sittlichen Familienbande und ohne die damit zusammenhängende häus¬
liche Erziehung durch Gesetze für Religiosität, Treue, Bescheidenheit, Charakter¬
stärke, Barmherzigkeit und andere Seelenzierden wirken? Und wie weit käme
der Staat mit den bloßen Gesetzen, wenn es seinen Angehörigen in kritischen
Augenblicken an aufopferungsfähigem Patriotismus mangelte? Wie viel end¬
lich ist gesetzlich aufgenöthigter Gemeinsinn werth? "Wehe dem Staate," ruft
Held aus, "in welchem keine andere Gerechtigkeit und Pflichterfüllung wäre,
als die durch die Gerichte vermittelbare, und wo die richterliche Entscheidung
nur deshalb Autorität hätte, weil ihre Erfüllung erzwungen werden kann." ...
"Der Freiheit der Individualität bleibt nicht nur nothwendig ein großes Ge¬
biet, welches kein Gesetz zu berühren vermag, sondern auch ein außerordentlich


seinen Ausgangspunkt in Frankreich und zwar in der französischen Revolution
hat, und als dessen Produkte die Theorieen von der Souverüuetät des Gesetzes
und des Richterstandes, die haarscharfe Trennung zwischen Gerechtigkeitspflege
und Verwaltung, zwischen gesetzgebender und vollziehender Gewalt, die Masse
der Kodifikationen, die leidenschaftliche Gesetzmacherei und die übergroße Be¬
deutung, die man dem Rechtsformalismus zuschreibt, zu betrachten sind. Schon
Plciton aber hat darauf hingewiesen, daß die Gesetze nicht das ganze Leben
des Staates erschöpfen, und neuere Schriftsteller, darunter Doktrinäre vom
reinsten Wasser wie Constant, haben, vielleicht unbewußt, dieselbe Ueberzeugung
ausgesprochen. Ist das richtig, so kaun es unmöglich eine nothwendige Eigen¬
thümlichkeit unserer modernen Staaten sein, daß ihr ganzes Leben in der An¬
fertigung und Aufrechthaltung von Gesetzen verstieße. Der Unterschied der
Gesetze und Rechtsansichten der zivilisirten Völker ist, wie Held bemerkt, ein
geringer. Dies gilt auch von dem öffentlichen Rechte derselben, denn alle
werden, wenn wir von Rußland absehen, vom Konstitutionalismus beherrscht.
Dies alles hindert aber die Selbständigkeit der verschiedenen Staaten nicht,
und so „muß die Eigenthümlichkeit der Völkerindividualitäten nicht sowohl an
dem in Gesetzen formell hervortretenden Ausdruck ihrer Rechtsüberzeugung
als vielmehr an der inneren Auffassung des Rechtsgedankens, an der Art
und dem Maße seiner Bethätigung im ganzen Leben des Volkes, an seinen
juristisch nicht formulirbaren Grundideen und an allen den vielen Dingen
hängen, die gleichfalls nicht juristisch formulirt werden können, sich aber gerade
an die tieferen nationalen Eigenthümlichkeiten anschließen, welche eben durch
jene Grundideen hervorgerufen und dadurch innerlich bedeutungsvoll werden."

Eine große Masse von wichtigen Dingen entzieht sich gänzlich oder theil¬
weise der Bestimmung durch Gesetze; denn im Staate muß Freiheit sein. Keine
Tugend läßt sich gesetzlich vorschreiben oder gar erzwingen, jede ist Produkt
der sittlichen Arbeit des betreffenden Individuums. Wie viel ließe sich wohl
ohne die sittlichen Familienbande und ohne die damit zusammenhängende häus¬
liche Erziehung durch Gesetze für Religiosität, Treue, Bescheidenheit, Charakter¬
stärke, Barmherzigkeit und andere Seelenzierden wirken? Und wie weit käme
der Staat mit den bloßen Gesetzen, wenn es seinen Angehörigen in kritischen
Augenblicken an aufopferungsfähigem Patriotismus mangelte? Wie viel end¬
lich ist gesetzlich aufgenöthigter Gemeinsinn werth? „Wehe dem Staate," ruft
Held aus, „in welchem keine andere Gerechtigkeit und Pflichterfüllung wäre,
als die durch die Gerichte vermittelbare, und wo die richterliche Entscheidung
nur deshalb Autorität hätte, weil ihre Erfüllung erzwungen werden kann." ...
„Der Freiheit der Individualität bleibt nicht nur nothwendig ein großes Ge¬
biet, welches kein Gesetz zu berühren vermag, sondern auch ein außerordentlich


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[0256] seinen Ausgangspunkt in Frankreich und zwar in der französischen Revolution hat, und als dessen Produkte die Theorieen von der Souverüuetät des Gesetzes und des Richterstandes, die haarscharfe Trennung zwischen Gerechtigkeitspflege und Verwaltung, zwischen gesetzgebender und vollziehender Gewalt, die Masse der Kodifikationen, die leidenschaftliche Gesetzmacherei und die übergroße Be¬ deutung, die man dem Rechtsformalismus zuschreibt, zu betrachten sind. Schon Plciton aber hat darauf hingewiesen, daß die Gesetze nicht das ganze Leben des Staates erschöpfen, und neuere Schriftsteller, darunter Doktrinäre vom reinsten Wasser wie Constant, haben, vielleicht unbewußt, dieselbe Ueberzeugung ausgesprochen. Ist das richtig, so kaun es unmöglich eine nothwendige Eigen¬ thümlichkeit unserer modernen Staaten sein, daß ihr ganzes Leben in der An¬ fertigung und Aufrechthaltung von Gesetzen verstieße. Der Unterschied der Gesetze und Rechtsansichten der zivilisirten Völker ist, wie Held bemerkt, ein geringer. Dies gilt auch von dem öffentlichen Rechte derselben, denn alle werden, wenn wir von Rußland absehen, vom Konstitutionalismus beherrscht. Dies alles hindert aber die Selbständigkeit der verschiedenen Staaten nicht, und so „muß die Eigenthümlichkeit der Völkerindividualitäten nicht sowohl an dem in Gesetzen formell hervortretenden Ausdruck ihrer Rechtsüberzeugung als vielmehr an der inneren Auffassung des Rechtsgedankens, an der Art und dem Maße seiner Bethätigung im ganzen Leben des Volkes, an seinen juristisch nicht formulirbaren Grundideen und an allen den vielen Dingen hängen, die gleichfalls nicht juristisch formulirt werden können, sich aber gerade an die tieferen nationalen Eigenthümlichkeiten anschließen, welche eben durch jene Grundideen hervorgerufen und dadurch innerlich bedeutungsvoll werden." Eine große Masse von wichtigen Dingen entzieht sich gänzlich oder theil¬ weise der Bestimmung durch Gesetze; denn im Staate muß Freiheit sein. Keine Tugend läßt sich gesetzlich vorschreiben oder gar erzwingen, jede ist Produkt der sittlichen Arbeit des betreffenden Individuums. Wie viel ließe sich wohl ohne die sittlichen Familienbande und ohne die damit zusammenhängende häus¬ liche Erziehung durch Gesetze für Religiosität, Treue, Bescheidenheit, Charakter¬ stärke, Barmherzigkeit und andere Seelenzierden wirken? Und wie weit käme der Staat mit den bloßen Gesetzen, wenn es seinen Angehörigen in kritischen Augenblicken an aufopferungsfähigem Patriotismus mangelte? Wie viel end¬ lich ist gesetzlich aufgenöthigter Gemeinsinn werth? „Wehe dem Staate," ruft Held aus, „in welchem keine andere Gerechtigkeit und Pflichterfüllung wäre, als die durch die Gerichte vermittelbare, und wo die richterliche Entscheidung nur deshalb Autorität hätte, weil ihre Erfüllung erzwungen werden kann." ... „Der Freiheit der Individualität bleibt nicht nur nothwendig ein großes Ge¬ biet, welches kein Gesetz zu berühren vermag, sondern auch ein außerordentlich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/256>, abgerufen am 01.10.2024.