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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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daß es dringend nothwendig, der Regierung, als der Wächterin aller höchsten
Güter, Werkzeuge und Waffen zur Beseitigung dieser Gefahr zu schaffen; aber
die Juristerei in der Versammlung schüttelte den Kopf, sah in ihren grauen
Schulkategorieen nach und stemmte sich nach Kräften gegen die Vorschläge der
Regierung, weil sie ein "Ausnahmegesetz" vor den Forderungen des "gemeinen
Rechts" nicht gutheißen konnte. Und als die Reden, die dies betont, endlich
schwiegen, gab es andere wichtige Bedenken. Die Welt wußte aus der Ge¬
schichte und aus dem Munde der betreffenden Revolutionäre selbst ganz genau,
was sozialistisch und kommunistisch sei. Aber die Jurisprudenz vermochte es
in ihrem Herbarium getrockneter Begriffe nicht eher unterzubringen, als bis
es definirt war. Als ob es nicht tausend Dinge gäbe, die sich nicht so klar
und ganz in Definitionen und Formeln ausdrücken lassen, als sie im Gefühl
und Bewußtsein der Menschen ruhen, als ob man bei einer Regierung, die sich
mit der Freiheit und Ordnung identifizirt hatte, jene Klarheit nicht in beson¬
derem Maße hätte voraussetzen können, und als ob die Juristen bei ihren
Definitionen nicht genöthigt gewesen wären, das, was an ihren logischen Schöp¬
fungen Fleisch und Blut hatte, ebenfalls aus dem Gefühl und Bewußtsein zu
entnehmen, das aus der Erfahrung hervorgegangen war. Die höchste Vehe-
menz endlich entwickelte die Juristerei bei dieser Sache, als die Rekursinstanz
in Frage kam. Bundesrecht, Partikularrecht, Strafrecht und Zivilrecht zogen
in langer Prozession über die Bühne, und die Fortschrittspartei gerieth in
einen juristischen Eifer, der sich in höchst komischem Sprunge sogar über eine
ihrer Grundforderungen hinwegsetzte: sie, die alle politischen Verbrechen an die
Geschworenengerichte, d. h. an Nichtjuristen, verwiesen wissen wollte, verlangte,
daß die Rekursinstanz einzig aus richterlichen Beamten zusammengesetzt werde.

Wir sagen dazu: gewiß hat das Wort recht, welches behauptet ,^8titi^
oft kuMarrisiitriM rsAnorruA". Das Recht ist der Grundstein des Staates.
Das Schaffende und Lebende in, demselben aber ist etwas Anderes, und die
Rechts gelehrtheit hat nicht die Befugniß, sich als Fundament der Staaten
zu betrachten. Das Schöpferische ist das gesammte nationale Leben, die Staats¬
kunst gestaltet die Produkte desselben, und die Staatswissenschaft registrirt diese
Gebilde und gruppirt sie in gesetzmäßiger Reihe.

Die Erscheinung, daß in unseren Parlamenten der gesetzgeberischen und
richterlichen Thätigkeit zu hohe Bedeutung beigelegt wird, rührt übrigens, wie
angedeutet, nicht blos von dem Umstände her, daß in ihnen das juristische
Element überwiegt. Sie ist, wie Held*) bemerkt, ein Zug unserer Zeit, der



*) "Staat und Gesellschaft", III. Theil, S. SS3 ff., wo das oben Folgende ausführ¬
licher zu finden ist.

daß es dringend nothwendig, der Regierung, als der Wächterin aller höchsten
Güter, Werkzeuge und Waffen zur Beseitigung dieser Gefahr zu schaffen; aber
die Juristerei in der Versammlung schüttelte den Kopf, sah in ihren grauen
Schulkategorieen nach und stemmte sich nach Kräften gegen die Vorschläge der
Regierung, weil sie ein „Ausnahmegesetz" vor den Forderungen des „gemeinen
Rechts" nicht gutheißen konnte. Und als die Reden, die dies betont, endlich
schwiegen, gab es andere wichtige Bedenken. Die Welt wußte aus der Ge¬
schichte und aus dem Munde der betreffenden Revolutionäre selbst ganz genau,
was sozialistisch und kommunistisch sei. Aber die Jurisprudenz vermochte es
in ihrem Herbarium getrockneter Begriffe nicht eher unterzubringen, als bis
es definirt war. Als ob es nicht tausend Dinge gäbe, die sich nicht so klar
und ganz in Definitionen und Formeln ausdrücken lassen, als sie im Gefühl
und Bewußtsein der Menschen ruhen, als ob man bei einer Regierung, die sich
mit der Freiheit und Ordnung identifizirt hatte, jene Klarheit nicht in beson¬
derem Maße hätte voraussetzen können, und als ob die Juristen bei ihren
Definitionen nicht genöthigt gewesen wären, das, was an ihren logischen Schöp¬
fungen Fleisch und Blut hatte, ebenfalls aus dem Gefühl und Bewußtsein zu
entnehmen, das aus der Erfahrung hervorgegangen war. Die höchste Vehe-
menz endlich entwickelte die Juristerei bei dieser Sache, als die Rekursinstanz
in Frage kam. Bundesrecht, Partikularrecht, Strafrecht und Zivilrecht zogen
in langer Prozession über die Bühne, und die Fortschrittspartei gerieth in
einen juristischen Eifer, der sich in höchst komischem Sprunge sogar über eine
ihrer Grundforderungen hinwegsetzte: sie, die alle politischen Verbrechen an die
Geschworenengerichte, d. h. an Nichtjuristen, verwiesen wissen wollte, verlangte,
daß die Rekursinstanz einzig aus richterlichen Beamten zusammengesetzt werde.

Wir sagen dazu: gewiß hat das Wort recht, welches behauptet ,^8titi^
oft kuMarrisiitriM rsAnorruA". Das Recht ist der Grundstein des Staates.
Das Schaffende und Lebende in, demselben aber ist etwas Anderes, und die
Rechts gelehrtheit hat nicht die Befugniß, sich als Fundament der Staaten
zu betrachten. Das Schöpferische ist das gesammte nationale Leben, die Staats¬
kunst gestaltet die Produkte desselben, und die Staatswissenschaft registrirt diese
Gebilde und gruppirt sie in gesetzmäßiger Reihe.

Die Erscheinung, daß in unseren Parlamenten der gesetzgeberischen und
richterlichen Thätigkeit zu hohe Bedeutung beigelegt wird, rührt übrigens, wie
angedeutet, nicht blos von dem Umstände her, daß in ihnen das juristische
Element überwiegt. Sie ist, wie Held*) bemerkt, ein Zug unserer Zeit, der



*) „Staat und Gesellschaft", III. Theil, S. SS3 ff., wo das oben Folgende ausführ¬
licher zu finden ist.
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[0255] daß es dringend nothwendig, der Regierung, als der Wächterin aller höchsten Güter, Werkzeuge und Waffen zur Beseitigung dieser Gefahr zu schaffen; aber die Juristerei in der Versammlung schüttelte den Kopf, sah in ihren grauen Schulkategorieen nach und stemmte sich nach Kräften gegen die Vorschläge der Regierung, weil sie ein „Ausnahmegesetz" vor den Forderungen des „gemeinen Rechts" nicht gutheißen konnte. Und als die Reden, die dies betont, endlich schwiegen, gab es andere wichtige Bedenken. Die Welt wußte aus der Ge¬ schichte und aus dem Munde der betreffenden Revolutionäre selbst ganz genau, was sozialistisch und kommunistisch sei. Aber die Jurisprudenz vermochte es in ihrem Herbarium getrockneter Begriffe nicht eher unterzubringen, als bis es definirt war. Als ob es nicht tausend Dinge gäbe, die sich nicht so klar und ganz in Definitionen und Formeln ausdrücken lassen, als sie im Gefühl und Bewußtsein der Menschen ruhen, als ob man bei einer Regierung, die sich mit der Freiheit und Ordnung identifizirt hatte, jene Klarheit nicht in beson¬ derem Maße hätte voraussetzen können, und als ob die Juristen bei ihren Definitionen nicht genöthigt gewesen wären, das, was an ihren logischen Schöp¬ fungen Fleisch und Blut hatte, ebenfalls aus dem Gefühl und Bewußtsein zu entnehmen, das aus der Erfahrung hervorgegangen war. Die höchste Vehe- menz endlich entwickelte die Juristerei bei dieser Sache, als die Rekursinstanz in Frage kam. Bundesrecht, Partikularrecht, Strafrecht und Zivilrecht zogen in langer Prozession über die Bühne, und die Fortschrittspartei gerieth in einen juristischen Eifer, der sich in höchst komischem Sprunge sogar über eine ihrer Grundforderungen hinwegsetzte: sie, die alle politischen Verbrechen an die Geschworenengerichte, d. h. an Nichtjuristen, verwiesen wissen wollte, verlangte, daß die Rekursinstanz einzig aus richterlichen Beamten zusammengesetzt werde. Wir sagen dazu: gewiß hat das Wort recht, welches behauptet ,^8titi^ oft kuMarrisiitriM rsAnorruA". Das Recht ist der Grundstein des Staates. Das Schaffende und Lebende in, demselben aber ist etwas Anderes, und die Rechts gelehrtheit hat nicht die Befugniß, sich als Fundament der Staaten zu betrachten. Das Schöpferische ist das gesammte nationale Leben, die Staats¬ kunst gestaltet die Produkte desselben, und die Staatswissenschaft registrirt diese Gebilde und gruppirt sie in gesetzmäßiger Reihe. Die Erscheinung, daß in unseren Parlamenten der gesetzgeberischen und richterlichen Thätigkeit zu hohe Bedeutung beigelegt wird, rührt übrigens, wie angedeutet, nicht blos von dem Umstände her, daß in ihnen das juristische Element überwiegt. Sie ist, wie Held*) bemerkt, ein Zug unserer Zeit, der *) „Staat und Gesellschaft", III. Theil, S. SS3 ff., wo das oben Folgende ausführ¬ licher zu finden ist.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/255>, abgerufen am 01.10.2024.