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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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großer Spielraum in Bezug auf die Erfüllung des Gesetzes. Dies gilt
namentlich von den Gesetzen nach der wahren Idee des konstitutionellen Staates,
welcher mehr und Wichtigeres auf das Gewissen seiner Angehörigen stellt, bei
der Ausübung des Gesetzgebnngswerkes selbst die Geltendmachung des ganzen
organischen Volkslebens beabsichtigt und eben deshalb dem Grundsätze der
Transaktion huldigen muß" -- eine Wahrheit, die Bismarck in den Worten:
"Die Basis aller konstitutionellen Verfassung ist der Kompromiß", und die
Odilon Barrot in dem Satze: "I^hö rstorinss us Lord <zns clss tra,n8Ä(zti0r>,s"
ausgedrückt hat. Das Prinzip der Ausgleichung ist und war in allen Staaten
der Träger derjenigen Bestandtheile, die in ihnen organisch waren, im Konsti-
tutionalismus aber muß es seiner Idee nach für das ganze staatliche Leben
als wirksam anerkannt werden.

"Den Gesetzen selbst," so fährt unser Autor fort, "würde alles höhere
Leben fehlen, wenn sie allein das ganze Leben des Staates sein müßten. Denn
sie würden den Menschen, statt ihn dnrch Gewährung einer von ihnen unbe¬
rührt gelassenen Sphäre freizulassen, zum bloßen Sklaven einer Masse positiver
Satzungen machen, weil sie der menschenwürdigen Sanktion und des Mittels
einer organischen und darum sicheren Fortbildung entbehren müßten." Das
wäre der sogenannte Rechtsstaat im Sinne der Extremen. Er wäre die in
einem bestimmten Augenblicke sich vollendende und dann endgiltig feststehende
Krystallisation des inneren höheren Lebens eines Volkes und somit gerade auf
seiner höchsten Entwickelungsstufe die vollständigste Vernichtung der individu¬
ellen Freiheit und der persönlichen wie staatlichen Fortschrittsfähigkeit. Aber
auch der milder gestaltete Rechtsstaat, den man als Vollendung des Konstitu-
tionalismus preisen hört, und der die neben den Gesetzbauern bestehenden
Faktoren des geselligen Lebens zwar nicht vom Staate ausschließt, aber die
Forderung erhebt, daß sich dieses Leben nur um das Schaffen, Erfüllen und
Erhalten von Gesetzen bewege, ist ein Unding. Man will damit, wie Held
bemerkt, den konstitutionellen Staat zum Gegentheil des administrativen Polizei¬
staates gestalten, weshalb man sich bestrebt, Gesetzgebung und Justiz von der
Verwaltung äußerlich vollkommen zu trennen und das Gebiet der ersteren in
demselben Grade zu erweitern, wie man das der letzteren zu beschränken sucht.
Darin aber mischt sich Wahres mit Falschen. "Denn nicht darin, wie ein
Gesetz zu Stande gebracht werde, auch nicht in der Annahme einer für alle
Gegenstände staatlicher Verfügung gleich vorzüglichen Eigenschaft der Gesetzes¬
form liegt die Befriedigung aller Staatsbedürfnisse, sondern darin, daß die¬
jenigen Dinge, welche unter den obwaltenden Verhältnissen ihrer inneren Natur
nach zur Gesetzgebung und Rechtspflege gehören, nnr dieser unterstellt werden,
der Verwaltung aber diejenigen zufallen, welche aus denselben Gründen der


großer Spielraum in Bezug auf die Erfüllung des Gesetzes. Dies gilt
namentlich von den Gesetzen nach der wahren Idee des konstitutionellen Staates,
welcher mehr und Wichtigeres auf das Gewissen seiner Angehörigen stellt, bei
der Ausübung des Gesetzgebnngswerkes selbst die Geltendmachung des ganzen
organischen Volkslebens beabsichtigt und eben deshalb dem Grundsätze der
Transaktion huldigen muß" — eine Wahrheit, die Bismarck in den Worten:
„Die Basis aller konstitutionellen Verfassung ist der Kompromiß", und die
Odilon Barrot in dem Satze: „I^hö rstorinss us Lord <zns clss tra,n8Ä(zti0r>,s"
ausgedrückt hat. Das Prinzip der Ausgleichung ist und war in allen Staaten
der Träger derjenigen Bestandtheile, die in ihnen organisch waren, im Konsti-
tutionalismus aber muß es seiner Idee nach für das ganze staatliche Leben
als wirksam anerkannt werden.

„Den Gesetzen selbst," so fährt unser Autor fort, „würde alles höhere
Leben fehlen, wenn sie allein das ganze Leben des Staates sein müßten. Denn
sie würden den Menschen, statt ihn dnrch Gewährung einer von ihnen unbe¬
rührt gelassenen Sphäre freizulassen, zum bloßen Sklaven einer Masse positiver
Satzungen machen, weil sie der menschenwürdigen Sanktion und des Mittels
einer organischen und darum sicheren Fortbildung entbehren müßten." Das
wäre der sogenannte Rechtsstaat im Sinne der Extremen. Er wäre die in
einem bestimmten Augenblicke sich vollendende und dann endgiltig feststehende
Krystallisation des inneren höheren Lebens eines Volkes und somit gerade auf
seiner höchsten Entwickelungsstufe die vollständigste Vernichtung der individu¬
ellen Freiheit und der persönlichen wie staatlichen Fortschrittsfähigkeit. Aber
auch der milder gestaltete Rechtsstaat, den man als Vollendung des Konstitu-
tionalismus preisen hört, und der die neben den Gesetzbauern bestehenden
Faktoren des geselligen Lebens zwar nicht vom Staate ausschließt, aber die
Forderung erhebt, daß sich dieses Leben nur um das Schaffen, Erfüllen und
Erhalten von Gesetzen bewege, ist ein Unding. Man will damit, wie Held
bemerkt, den konstitutionellen Staat zum Gegentheil des administrativen Polizei¬
staates gestalten, weshalb man sich bestrebt, Gesetzgebung und Justiz von der
Verwaltung äußerlich vollkommen zu trennen und das Gebiet der ersteren in
demselben Grade zu erweitern, wie man das der letzteren zu beschränken sucht.
Darin aber mischt sich Wahres mit Falschen. „Denn nicht darin, wie ein
Gesetz zu Stande gebracht werde, auch nicht in der Annahme einer für alle
Gegenstände staatlicher Verfügung gleich vorzüglichen Eigenschaft der Gesetzes¬
form liegt die Befriedigung aller Staatsbedürfnisse, sondern darin, daß die¬
jenigen Dinge, welche unter den obwaltenden Verhältnissen ihrer inneren Natur
nach zur Gesetzgebung und Rechtspflege gehören, nnr dieser unterstellt werden,
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/257>, abgerufen am 01.07.2024.