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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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ihr aber durchaus selbständig dasteht, insofern der Uebersetzer das ganze ein¬
schlagende Gebiet der französischen Literatur von neuem durchwandert und
vieles herangezogen hat, was Kuhff entgangen ist. Manches von dem, was
er mittheilt, steht allerdings auf derselben Stufe wie die erwähnten Kinderlieder
von Gull, Reinick u. a., infofern der Dichter oder die Dichterin nachweisbar
ist; die überwiegende Mehrzahl aber gehört der Volkspoesie an. Räumlich
hat bei der Wahl natürlich nicht das politisch abgegrenzte Frankreich, sondern das
französische Sprachgebiet den Ausschlag gegeben; auch die Schweiz, Belgien und
selbst -- Canada, das ja vormals zu Frankreich gehörte, haben Beiträge geliefert.
Zeitlich umspannen die Lieder ein Gebiet von sechs bis sieben Jahrhunderten;
einzelnes reicht nachweislich mit seiner Entstehung in's 13. und 14. Jahrhundert
zurück. Das Ganze ist in vier Abschnitte eingetheilt: "Ein Tag im Kinder¬
leben", "Ein Jahr im Kinderleben" (gruppirt zum Theil nach den Jahreszeiten,
zum Theil nach den kirchlichen Festen), "Spiellieder" (darunter eine Anzahl
sogenannter Abzählsprüche), endlich "Lieder" schlechthin, welche die Thierwelt,
Stände und Gewerbe, Land und Vaterland u. a. in den Kreis der poetischen.
Behandlung ziehen.

Die Sammlung hat uns in hohem Grade interessirt und uns viele Freude
gemacht. Nicht nur, daß wir daraus gesehen, daß die Franzosen in der That
einen reichen Schatz echter, naiver, gesunder Kinderpoeste besitzen, sondern daß
auch, was freilich zu erwarten war, ein beträchtlicher Theil davon eine auf¬
fällige Aehnlichkeit mit deutscheu Kiuderliedern hat und offenbar ebenso, wie zahl¬
reiche Volksmärchen, als gewandertes Gut zu betrachten ist. Das Abweichende
und Eigenartige aber ist von mannichfachen Interesse für die Kulturverhältnisse.
Man vermißt Vorstellungen darin, die im deutschen Volksliede fortwährend
wiederkehren, und umgekehrt. So ist es z. B. bei der hohen Ausbildung, deren
sich in Frankreich die Geflügelzucht erfreut, gewiß kein Zufall, daß das fran¬
zösische Kinderlied die Henne mit einer Aufmerksamkeit behandelt, wie sie in
der deutschen Kinderpoesie etwa dem Hasen zu Theil wird. Eine ziemliche
Anzahl dreht sich auch um das Hirtenleben, das im deutschen Kinderliede
ziemlich leer ausgeht, und ähnliches. Leider müssen wir es uns versagen, eine
Auswahl aus der Sammlung hier mitzutheilen. Ein einziges Verschen wollen
wir als Probe spenden, welches zugleich das komische Element, an dem es
auch nicht fehlt, in ergötzlicher Weise repräsentirt:


Drei Hennen schreiten hin zum Feld,
Die erste vor den Zug sich stellt,
Die zweite folgt in gleichem Schritt,

ihr aber durchaus selbständig dasteht, insofern der Uebersetzer das ganze ein¬
schlagende Gebiet der französischen Literatur von neuem durchwandert und
vieles herangezogen hat, was Kuhff entgangen ist. Manches von dem, was
er mittheilt, steht allerdings auf derselben Stufe wie die erwähnten Kinderlieder
von Gull, Reinick u. a., infofern der Dichter oder die Dichterin nachweisbar
ist; die überwiegende Mehrzahl aber gehört der Volkspoesie an. Räumlich
hat bei der Wahl natürlich nicht das politisch abgegrenzte Frankreich, sondern das
französische Sprachgebiet den Ausschlag gegeben; auch die Schweiz, Belgien und
selbst — Canada, das ja vormals zu Frankreich gehörte, haben Beiträge geliefert.
Zeitlich umspannen die Lieder ein Gebiet von sechs bis sieben Jahrhunderten;
einzelnes reicht nachweislich mit seiner Entstehung in's 13. und 14. Jahrhundert
zurück. Das Ganze ist in vier Abschnitte eingetheilt: „Ein Tag im Kinder¬
leben", „Ein Jahr im Kinderleben" (gruppirt zum Theil nach den Jahreszeiten,
zum Theil nach den kirchlichen Festen), „Spiellieder" (darunter eine Anzahl
sogenannter Abzählsprüche), endlich „Lieder" schlechthin, welche die Thierwelt,
Stände und Gewerbe, Land und Vaterland u. a. in den Kreis der poetischen.
Behandlung ziehen.

Die Sammlung hat uns in hohem Grade interessirt und uns viele Freude
gemacht. Nicht nur, daß wir daraus gesehen, daß die Franzosen in der That
einen reichen Schatz echter, naiver, gesunder Kinderpoeste besitzen, sondern daß
auch, was freilich zu erwarten war, ein beträchtlicher Theil davon eine auf¬
fällige Aehnlichkeit mit deutscheu Kiuderliedern hat und offenbar ebenso, wie zahl¬
reiche Volksmärchen, als gewandertes Gut zu betrachten ist. Das Abweichende
und Eigenartige aber ist von mannichfachen Interesse für die Kulturverhältnisse.
Man vermißt Vorstellungen darin, die im deutschen Volksliede fortwährend
wiederkehren, und umgekehrt. So ist es z. B. bei der hohen Ausbildung, deren
sich in Frankreich die Geflügelzucht erfreut, gewiß kein Zufall, daß das fran¬
zösische Kinderlied die Henne mit einer Aufmerksamkeit behandelt, wie sie in
der deutschen Kinderpoesie etwa dem Hasen zu Theil wird. Eine ziemliche
Anzahl dreht sich auch um das Hirtenleben, das im deutschen Kinderliede
ziemlich leer ausgeht, und ähnliches. Leider müssen wir es uns versagen, eine
Auswahl aus der Sammlung hier mitzutheilen. Ein einziges Verschen wollen
wir als Probe spenden, welches zugleich das komische Element, an dem es
auch nicht fehlt, in ergötzlicher Weise repräsentirt:


Drei Hennen schreiten hin zum Feld,
Die erste vor den Zug sich stellt,
Die zweite folgt in gleichem Schritt,

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[0162] ihr aber durchaus selbständig dasteht, insofern der Uebersetzer das ganze ein¬ schlagende Gebiet der französischen Literatur von neuem durchwandert und vieles herangezogen hat, was Kuhff entgangen ist. Manches von dem, was er mittheilt, steht allerdings auf derselben Stufe wie die erwähnten Kinderlieder von Gull, Reinick u. a., infofern der Dichter oder die Dichterin nachweisbar ist; die überwiegende Mehrzahl aber gehört der Volkspoesie an. Räumlich hat bei der Wahl natürlich nicht das politisch abgegrenzte Frankreich, sondern das französische Sprachgebiet den Ausschlag gegeben; auch die Schweiz, Belgien und selbst — Canada, das ja vormals zu Frankreich gehörte, haben Beiträge geliefert. Zeitlich umspannen die Lieder ein Gebiet von sechs bis sieben Jahrhunderten; einzelnes reicht nachweislich mit seiner Entstehung in's 13. und 14. Jahrhundert zurück. Das Ganze ist in vier Abschnitte eingetheilt: „Ein Tag im Kinder¬ leben", „Ein Jahr im Kinderleben" (gruppirt zum Theil nach den Jahreszeiten, zum Theil nach den kirchlichen Festen), „Spiellieder" (darunter eine Anzahl sogenannter Abzählsprüche), endlich „Lieder" schlechthin, welche die Thierwelt, Stände und Gewerbe, Land und Vaterland u. a. in den Kreis der poetischen. Behandlung ziehen. Die Sammlung hat uns in hohem Grade interessirt und uns viele Freude gemacht. Nicht nur, daß wir daraus gesehen, daß die Franzosen in der That einen reichen Schatz echter, naiver, gesunder Kinderpoeste besitzen, sondern daß auch, was freilich zu erwarten war, ein beträchtlicher Theil davon eine auf¬ fällige Aehnlichkeit mit deutscheu Kiuderliedern hat und offenbar ebenso, wie zahl¬ reiche Volksmärchen, als gewandertes Gut zu betrachten ist. Das Abweichende und Eigenartige aber ist von mannichfachen Interesse für die Kulturverhältnisse. Man vermißt Vorstellungen darin, die im deutschen Volksliede fortwährend wiederkehren, und umgekehrt. So ist es z. B. bei der hohen Ausbildung, deren sich in Frankreich die Geflügelzucht erfreut, gewiß kein Zufall, daß das fran¬ zösische Kinderlied die Henne mit einer Aufmerksamkeit behandelt, wie sie in der deutschen Kinderpoesie etwa dem Hasen zu Theil wird. Eine ziemliche Anzahl dreht sich auch um das Hirtenleben, das im deutschen Kinderliede ziemlich leer ausgeht, und ähnliches. Leider müssen wir es uns versagen, eine Auswahl aus der Sammlung hier mitzutheilen. Ein einziges Verschen wollen wir als Probe spenden, welches zugleich das komische Element, an dem es auch nicht fehlt, in ergötzlicher Weise repräsentirt: Drei Hennen schreiten hin zum Feld, Die erste vor den Zug sich stellt, Die zweite folgt in gleichem Schritt,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/162>, abgerufen am 23.07.2024.