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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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Die drei Hennen.
Iranzöstsche Kinderlieder.

Französische Kinderlieder? Gibt es die überhaupt? Ist es nicht eine
feststehende Ansicht: "I,g, xvüsis siMutins n'sxistö xas Trance"? --
Wenn man nach dem "poetischen" Theile der landläufigen französischen Lese¬
bücher und Chrestomathieen urtheilen soll, so möchte man allerdings glauben,
daß es den Franzosen an echter Kinderpoesie vollständig fehle, und man wird
auch rasch bereit sein, das sehr erklärlich zu finden, da man ja im allgemeinen
geneigt ist, dem französischen Volke Verständniß für echt kindliches Fühlen und
Denken abzusprechen. Aber man prüfe doch einmal die "Heimatskunden" *),
die "Musikalischen Jugendfreunde", die "Sängerhaine", und wie die schönen
Büchlein alle heißen, die in der deutschen Volksschule eingeführt sind und für
tausende und abertausende von Kindern außer der Gesangbuchslyrik die einzige
poetische Nahrung bilden, -- ist denn dort etwa eine Spur von echter Kinderpoesie
zu finden? Würde ein Franzose, der das deutsche Kinderlied an diesen Quellen
studiren wollte, nicht beinahe zu demselben Ergebnisse gelangen? Wir sagen:
beinahe, denn es wäre ungerecht, wenn man leugnen wollte, daß die deutschen
Dichter, die sich kunstmäßig im Kinderliede versucht haben, wie Hey, Gull,
Reinick, Rückert, Arndt, Hoffmann von Fallersleben u. a., und deren Produkte
einen guten Theil unserer Kinderliedersammlungen ausmachen, nicht dann und
wann einmal den echten Kinderton recht hübsch getroffen hätten.

Den Franzosen zum ersten Male eine Sammlung echter, volksthümlicher
Kinderlieder gegeben zu haben, ähnlich wie wir sie schon seit den fünfziger
Jahren in den Sammlungen von Simrock und Rochholz besitzen, ist das Ver¬
dienst Kuhff's.**) Vorgearbeitet war ihm allerdings durch die allgemeinen
Volksliedersammlungen von Champfleury, Bugeaud u. A., aber die erste Ueber¬
sicht dessen, was aus dem größeren Schatze als eigentliches Kinderlied sich
abhebt, ist doch ihm zu danken. Vor wenigen Wochen ist nun auch eine
Sammlung französischer Kinderlieder in deutscher Übertragung von
Otto Kamp erschienen,***) die sich an Kuhff's Sammlung anschließt, neben





*) In Leipzig ist jetzt bei dem ersten Schulbuche, das dem Kinde in die Hand ge¬
geben wird, der alte, gute, gemüthliche Titel "Heimatskunde" durch den äußerst weisen und
sicherlich aus tiefsinnigster Erwägung hervorgegangenen Titel: "Der Wohnort" ersetzt worden!
Es stiert einen förmlich angesichts der Nacktheit dieser unglaublichen Prosa.
**) ?K. Knut?, I.es Nutantinos an bon as ?rs,nos. 1s Uvrs ass Nsrss. ?g,ris,
8s,na<,2 et PisenvÄSNer, 1378.
***) Frankreich's Kinderwelt in Lied und Spiel Für Jung und Alt in deutscher Ueber-
tragung von Otto Kamp. Wiesbaden, I,' F. Bergmann, 1878.
Ärenzboten 1> 1879. 20
Die drei Hennen.
Iranzöstsche Kinderlieder.

Französische Kinderlieder? Gibt es die überhaupt? Ist es nicht eine
feststehende Ansicht: „I,g, xvüsis siMutins n'sxistö xas Trance"? —
Wenn man nach dem „poetischen" Theile der landläufigen französischen Lese¬
bücher und Chrestomathieen urtheilen soll, so möchte man allerdings glauben,
daß es den Franzosen an echter Kinderpoesie vollständig fehle, und man wird
auch rasch bereit sein, das sehr erklärlich zu finden, da man ja im allgemeinen
geneigt ist, dem französischen Volke Verständniß für echt kindliches Fühlen und
Denken abzusprechen. Aber man prüfe doch einmal die „Heimatskunden" *),
die „Musikalischen Jugendfreunde", die „Sängerhaine", und wie die schönen
Büchlein alle heißen, die in der deutschen Volksschule eingeführt sind und für
tausende und abertausende von Kindern außer der Gesangbuchslyrik die einzige
poetische Nahrung bilden, — ist denn dort etwa eine Spur von echter Kinderpoesie
zu finden? Würde ein Franzose, der das deutsche Kinderlied an diesen Quellen
studiren wollte, nicht beinahe zu demselben Ergebnisse gelangen? Wir sagen:
beinahe, denn es wäre ungerecht, wenn man leugnen wollte, daß die deutschen
Dichter, die sich kunstmäßig im Kinderliede versucht haben, wie Hey, Gull,
Reinick, Rückert, Arndt, Hoffmann von Fallersleben u. a., und deren Produkte
einen guten Theil unserer Kinderliedersammlungen ausmachen, nicht dann und
wann einmal den echten Kinderton recht hübsch getroffen hätten.

Den Franzosen zum ersten Male eine Sammlung echter, volksthümlicher
Kinderlieder gegeben zu haben, ähnlich wie wir sie schon seit den fünfziger
Jahren in den Sammlungen von Simrock und Rochholz besitzen, ist das Ver¬
dienst Kuhff's.**) Vorgearbeitet war ihm allerdings durch die allgemeinen
Volksliedersammlungen von Champfleury, Bugeaud u. A., aber die erste Ueber¬
sicht dessen, was aus dem größeren Schatze als eigentliches Kinderlied sich
abhebt, ist doch ihm zu danken. Vor wenigen Wochen ist nun auch eine
Sammlung französischer Kinderlieder in deutscher Übertragung von
Otto Kamp erschienen,***) die sich an Kuhff's Sammlung anschließt, neben





*) In Leipzig ist jetzt bei dem ersten Schulbuche, das dem Kinde in die Hand ge¬
geben wird, der alte, gute, gemüthliche Titel „Heimatskunde" durch den äußerst weisen und
sicherlich aus tiefsinnigster Erwägung hervorgegangenen Titel: „Der Wohnort" ersetzt worden!
Es stiert einen förmlich angesichts der Nacktheit dieser unglaublichen Prosa.
**) ?K. Knut?, I.es Nutantinos an bon as ?rs,nos. 1s Uvrs ass Nsrss. ?g,ris,
8s,na<,2 et PisenvÄSNer, 1378.
***) Frankreich's Kinderwelt in Lied und Spiel Für Jung und Alt in deutscher Ueber-
tragung von Otto Kamp. Wiesbaden, I,' F. Bergmann, 1878.
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[0161] Die drei Hennen. Iranzöstsche Kinderlieder. Französische Kinderlieder? Gibt es die überhaupt? Ist es nicht eine feststehende Ansicht: „I,g, xvüsis siMutins n'sxistö xas Trance"? — Wenn man nach dem „poetischen" Theile der landläufigen französischen Lese¬ bücher und Chrestomathieen urtheilen soll, so möchte man allerdings glauben, daß es den Franzosen an echter Kinderpoesie vollständig fehle, und man wird auch rasch bereit sein, das sehr erklärlich zu finden, da man ja im allgemeinen geneigt ist, dem französischen Volke Verständniß für echt kindliches Fühlen und Denken abzusprechen. Aber man prüfe doch einmal die „Heimatskunden" *), die „Musikalischen Jugendfreunde", die „Sängerhaine", und wie die schönen Büchlein alle heißen, die in der deutschen Volksschule eingeführt sind und für tausende und abertausende von Kindern außer der Gesangbuchslyrik die einzige poetische Nahrung bilden, — ist denn dort etwa eine Spur von echter Kinderpoesie zu finden? Würde ein Franzose, der das deutsche Kinderlied an diesen Quellen studiren wollte, nicht beinahe zu demselben Ergebnisse gelangen? Wir sagen: beinahe, denn es wäre ungerecht, wenn man leugnen wollte, daß die deutschen Dichter, die sich kunstmäßig im Kinderliede versucht haben, wie Hey, Gull, Reinick, Rückert, Arndt, Hoffmann von Fallersleben u. a., und deren Produkte einen guten Theil unserer Kinderliedersammlungen ausmachen, nicht dann und wann einmal den echten Kinderton recht hübsch getroffen hätten. Den Franzosen zum ersten Male eine Sammlung echter, volksthümlicher Kinderlieder gegeben zu haben, ähnlich wie wir sie schon seit den fünfziger Jahren in den Sammlungen von Simrock und Rochholz besitzen, ist das Ver¬ dienst Kuhff's.**) Vorgearbeitet war ihm allerdings durch die allgemeinen Volksliedersammlungen von Champfleury, Bugeaud u. A., aber die erste Ueber¬ sicht dessen, was aus dem größeren Schatze als eigentliches Kinderlied sich abhebt, ist doch ihm zu danken. Vor wenigen Wochen ist nun auch eine Sammlung französischer Kinderlieder in deutscher Übertragung von Otto Kamp erschienen,***) die sich an Kuhff's Sammlung anschließt, neben *) In Leipzig ist jetzt bei dem ersten Schulbuche, das dem Kinde in die Hand ge¬ geben wird, der alte, gute, gemüthliche Titel „Heimatskunde" durch den äußerst weisen und sicherlich aus tiefsinnigster Erwägung hervorgegangenen Titel: „Der Wohnort" ersetzt worden! Es stiert einen förmlich angesichts der Nacktheit dieser unglaublichen Prosa. **) ?K. Knut?, I.es Nutantinos an bon as ?rs,nos. 1s Uvrs ass Nsrss. ?g,ris, 8s,na<,2 et PisenvÄSNer, 1378. ***) Frankreich's Kinderwelt in Lied und Spiel Für Jung und Alt in deutscher Ueber- tragung von Otto Kamp. Wiesbaden, I,' F. Bergmann, 1878. Ärenzboten 1> 1879. 20

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/161>, abgerufen am 23.07.2024.