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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band.

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Richtung näher, als der politischen Partei sich anzuschließen, bei welcher sie
sicher war, Schutz und Förderung zu finden. Hätte unser politischer Libera¬
lismus von vornherein erkannt, daß das religiöse und sittliche Leben ein durch¬
aus eigenartiges Gebiet ist, das mit entgegengesetzten politischen Bestrebungen
in Einklang steht; hätte er darauf geachtet, wie sich in den Mutterländern poli¬
tischer Freiheit, in England und Nordamerika, der lebendigste und entschiedenste
biblische Glaube mit der Führerschaft einer liberalen Partei verbindet, dann
wäre manche trübe Erfahrung uns erspart geblieben. Und so sehen wir denn
mich, seitdem in neuester Zeit der Liberalismus ein tieferes Verständniß für
die Kirche gewonnen hat, -- wir haben die Freikonservativen und den rechten
Flügel der Nationalliberalen vor Augen -- viele kirchlich konservative Männer
mit demselben Fühlung gewinnen. Aber es wäre auch ein großes Unrecht,
wenn man den Geistlichen und andern kirchlich gerichteten Männern, welche auf
politischem Gebiet streng konservativ gesinnt siud, meinetwegen sogar reaktionären
Tendenzen huldigen, daraus einen moralischen Vorwurf machen, sie etwa
des Servilismus bezichtigen wollte. Dazu liegt gar kein Grund vor, da die
Leiter unserer Politik gegenwärtig durchaus nicht solchen Bestrebungen günstig
find. Ob jemand politisch konservativ oder politisch liberal gesonnen ist, das
wird wesentlich davon abhängig sein, wie er über die sittliche und intellektuelle
Reife des Volkes denkt. Je höher ihm dieselbe erscheint, desto liberaler; je
niedriger, desto konservativer wird er denken. Idealistische Naturen werden ge¬
neigt sein, diese Reife zu überschätzen, realistische, sie zu unterschätzen. Ein
optimistischer Liberalismus und ein pessimistischer Konservativismus -- das sind
die beiden Gefahren, vor denen die Politik sich zu hüten hat. Man kann
sicher sein, daß auf einen einseitigen abstrakten Liberalismus ein ebenso einsei¬
tiger abstrakter Konservativismus folgen wird, und umgekehrt. Ebenso steht
es fest, daß die Regierung die größte Aussicht auf Bestand hat, die es ver¬
steht, das Recht beider Theile zur Geltung zu bringen, konservative und liberale
Bestrebungen in sich zu verschmelzen.

Wenn man so nüchtern die innere Bedingtheit beider Parteien begreift,
dann wird man gewiß die Ausschreitungen hier und dort scharf beurtheilen,
aber auch in der Erkenntniß des relativen Rechts, auf welches eine jede An¬
spruch hat, sich davor hüten, intellektuelle Verirrungen zu sittlichen Verbrechen
zu stempeln. Denen, die noch mitten im Kampfe stehen, wird es gern ver¬
ziehen werden, wenn sie Anschuldigungen gegen den Gegner richten, die das


Kalamität zu betrachten, daß der deutsche Liberalismus das tiefere religiöse Leben nie er¬
gründet, darum auch nicht seiner Bedeutung gemäß beachtet und gepflegt, oft nicht einmal
geschont, ja nicht selten in schneidenden Widerspruch gesetzt hat."

Richtung näher, als der politischen Partei sich anzuschließen, bei welcher sie
sicher war, Schutz und Förderung zu finden. Hätte unser politischer Libera¬
lismus von vornherein erkannt, daß das religiöse und sittliche Leben ein durch¬
aus eigenartiges Gebiet ist, das mit entgegengesetzten politischen Bestrebungen
in Einklang steht; hätte er darauf geachtet, wie sich in den Mutterländern poli¬
tischer Freiheit, in England und Nordamerika, der lebendigste und entschiedenste
biblische Glaube mit der Führerschaft einer liberalen Partei verbindet, dann
wäre manche trübe Erfahrung uns erspart geblieben. Und so sehen wir denn
mich, seitdem in neuester Zeit der Liberalismus ein tieferes Verständniß für
die Kirche gewonnen hat, — wir haben die Freikonservativen und den rechten
Flügel der Nationalliberalen vor Augen — viele kirchlich konservative Männer
mit demselben Fühlung gewinnen. Aber es wäre auch ein großes Unrecht,
wenn man den Geistlichen und andern kirchlich gerichteten Männern, welche auf
politischem Gebiet streng konservativ gesinnt siud, meinetwegen sogar reaktionären
Tendenzen huldigen, daraus einen moralischen Vorwurf machen, sie etwa
des Servilismus bezichtigen wollte. Dazu liegt gar kein Grund vor, da die
Leiter unserer Politik gegenwärtig durchaus nicht solchen Bestrebungen günstig
find. Ob jemand politisch konservativ oder politisch liberal gesonnen ist, das
wird wesentlich davon abhängig sein, wie er über die sittliche und intellektuelle
Reife des Volkes denkt. Je höher ihm dieselbe erscheint, desto liberaler; je
niedriger, desto konservativer wird er denken. Idealistische Naturen werden ge¬
neigt sein, diese Reife zu überschätzen, realistische, sie zu unterschätzen. Ein
optimistischer Liberalismus und ein pessimistischer Konservativismus — das sind
die beiden Gefahren, vor denen die Politik sich zu hüten hat. Man kann
sicher sein, daß auf einen einseitigen abstrakten Liberalismus ein ebenso einsei¬
tiger abstrakter Konservativismus folgen wird, und umgekehrt. Ebenso steht
es fest, daß die Regierung die größte Aussicht auf Bestand hat, die es ver¬
steht, das Recht beider Theile zur Geltung zu bringen, konservative und liberale
Bestrebungen in sich zu verschmelzen.

Wenn man so nüchtern die innere Bedingtheit beider Parteien begreift,
dann wird man gewiß die Ausschreitungen hier und dort scharf beurtheilen,
aber auch in der Erkenntniß des relativen Rechts, auf welches eine jede An¬
spruch hat, sich davor hüten, intellektuelle Verirrungen zu sittlichen Verbrechen
zu stempeln. Denen, die noch mitten im Kampfe stehen, wird es gern ver¬
ziehen werden, wenn sie Anschuldigungen gegen den Gegner richten, die das


Kalamität zu betrachten, daß der deutsche Liberalismus das tiefere religiöse Leben nie er¬
gründet, darum auch nicht seiner Bedeutung gemäß beachtet und gepflegt, oft nicht einmal
geschont, ja nicht selten in schneidenden Widerspruch gesetzt hat."
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[0464] Richtung näher, als der politischen Partei sich anzuschließen, bei welcher sie sicher war, Schutz und Förderung zu finden. Hätte unser politischer Libera¬ lismus von vornherein erkannt, daß das religiöse und sittliche Leben ein durch¬ aus eigenartiges Gebiet ist, das mit entgegengesetzten politischen Bestrebungen in Einklang steht; hätte er darauf geachtet, wie sich in den Mutterländern poli¬ tischer Freiheit, in England und Nordamerika, der lebendigste und entschiedenste biblische Glaube mit der Führerschaft einer liberalen Partei verbindet, dann wäre manche trübe Erfahrung uns erspart geblieben. Und so sehen wir denn mich, seitdem in neuester Zeit der Liberalismus ein tieferes Verständniß für die Kirche gewonnen hat, — wir haben die Freikonservativen und den rechten Flügel der Nationalliberalen vor Augen — viele kirchlich konservative Männer mit demselben Fühlung gewinnen. Aber es wäre auch ein großes Unrecht, wenn man den Geistlichen und andern kirchlich gerichteten Männern, welche auf politischem Gebiet streng konservativ gesinnt siud, meinetwegen sogar reaktionären Tendenzen huldigen, daraus einen moralischen Vorwurf machen, sie etwa des Servilismus bezichtigen wollte. Dazu liegt gar kein Grund vor, da die Leiter unserer Politik gegenwärtig durchaus nicht solchen Bestrebungen günstig find. Ob jemand politisch konservativ oder politisch liberal gesonnen ist, das wird wesentlich davon abhängig sein, wie er über die sittliche und intellektuelle Reife des Volkes denkt. Je höher ihm dieselbe erscheint, desto liberaler; je niedriger, desto konservativer wird er denken. Idealistische Naturen werden ge¬ neigt sein, diese Reife zu überschätzen, realistische, sie zu unterschätzen. Ein optimistischer Liberalismus und ein pessimistischer Konservativismus — das sind die beiden Gefahren, vor denen die Politik sich zu hüten hat. Man kann sicher sein, daß auf einen einseitigen abstrakten Liberalismus ein ebenso einsei¬ tiger abstrakter Konservativismus folgen wird, und umgekehrt. Ebenso steht es fest, daß die Regierung die größte Aussicht auf Bestand hat, die es ver¬ steht, das Recht beider Theile zur Geltung zu bringen, konservative und liberale Bestrebungen in sich zu verschmelzen. Wenn man so nüchtern die innere Bedingtheit beider Parteien begreift, dann wird man gewiß die Ausschreitungen hier und dort scharf beurtheilen, aber auch in der Erkenntniß des relativen Rechts, auf welches eine jede An¬ spruch hat, sich davor hüten, intellektuelle Verirrungen zu sittlichen Verbrechen zu stempeln. Denen, die noch mitten im Kampfe stehen, wird es gern ver¬ ziehen werden, wenn sie Anschuldigungen gegen den Gegner richten, die das Kalamität zu betrachten, daß der deutsche Liberalismus das tiefere religiöse Leben nie er¬ gründet, darum auch nicht seiner Bedeutung gemäß beachtet und gepflegt, oft nicht einmal geschont, ja nicht selten in schneidenden Widerspruch gesetzt hat."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670/464>, abgerufen am 05.02.2025.