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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band.

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Maß nicht inne halten; aber wer uns, wie Baumgarten, in den Spiegel der
Vergangenheit schauen läßt, der sollte sich von der Leidenschaftlichkeit frei halten,
die dem Gegner nicht gerecht wird, weil sie ihn nicht versteht. Diese Milde
des Urtheils schließt es keineswegs aus, wie wir eben schon gesagt haben, daß
wir bestimmte Handlungen mit der größten sittlichen Energie verurtheilen;
wir haben kein Wort der Entschuldigung, auch nicht der Milderung der Schuld
für den Eidbrnch Ernst August's von Hannover, für die Demagogenhetze der
Herren Schmalz und von Kcunptz. Aber wir halten es für ungerecht, eine
ganze Partei für das verantwortlich zu machen, was Einzelne gesündigt haben.
Und daß diese, zumal die christlich Gesinnten unter ihnen, nicht dagegen Protest
erhoben haben, daß die gläubigen Geistlichen nicht Wortführer des Rechts
gegen das Unrecht gewesen sind, daß nur vereinzelt ihre Stimme hörbar ge¬
worden ist, wie sehr wir es beklagen und mißbilligen, der Mangel an Öffent¬
lichkeit des politischen und kirchlichen Lebens gereicht ihnen zur Milderung
der Schuld.

Von derartigen Verirrungen würden nun nach Baumgarten's Ueberzeu¬
gung die Vertreter des kirchlichen Lebens frei geblieben sein, wenn die Refor¬
mation eine reinliche Sonderung zwischen bürgerlicher und kirchlicher Gemeinde,
zwischen Kirche und Staat vollzogen hätte. Auch wir sind davon überzeugt,
daß die in der Reformation vollzogene Verbindung zwischen Staat und Kirche
an der Idee gemessen eine mangelhafte war, wir sind nicht blind gegen die
verderblichen Folgen, die daraus hervorgegangen sind, die Theologenherrschaft
hier, der Cüsciropapismus dort; wir haben seit mehr als einem Jahrzehnt
für die Umwandlung der Staatskirche in eine Landeskirche durch Herstellung
presbhterialer und synodaler Formen gewirkt und ihre Verwirklichung in Preußen
mit freudigem Dank begrüßt, aber alles dies hindert uns nicht, das Verfahren
der Reformatoren als ein geschichtlich nothwendiges anzusehen und die Ge¬
fahren der Staatskirche für geringer zu achten, als die Segnungen, die Kirche
und Staat von dieser empfangen haben.

Es hätte doch Baumgarten stutzig machen sollen, daß der Protestantismus
auf allen Gebieten, wo er staatliche Anerkennung fand, staatskirchliche Bil¬
dungen hervorgebracht und nur da, wo der Staat eine feindliche Stellung
gegen ihn einnahm, zu einer selbständigen Gestaltung sich entschlossen hat.

Die Gründe dieses Verfahrens der Reformatoren sind unschwer zu er¬
kenne::. Es war einmal die äußere Noth, die sie trieb. Es fragte sich, in
wessen Hand die Leitung der kirchlichen Angelegenheiten gelegt werden solle.
Wären die Bischöfe protestantisch geworden, so hätte diese Frage" sofort eine
befriedigende Erledigung gefunden. Es ist bekannt, wie besonders Melanchthon
für diese Lösung des Problems die lebhaftesten Sympathien hegte. Aber mit


Maß nicht inne halten; aber wer uns, wie Baumgarten, in den Spiegel der
Vergangenheit schauen läßt, der sollte sich von der Leidenschaftlichkeit frei halten,
die dem Gegner nicht gerecht wird, weil sie ihn nicht versteht. Diese Milde
des Urtheils schließt es keineswegs aus, wie wir eben schon gesagt haben, daß
wir bestimmte Handlungen mit der größten sittlichen Energie verurtheilen;
wir haben kein Wort der Entschuldigung, auch nicht der Milderung der Schuld
für den Eidbrnch Ernst August's von Hannover, für die Demagogenhetze der
Herren Schmalz und von Kcunptz. Aber wir halten es für ungerecht, eine
ganze Partei für das verantwortlich zu machen, was Einzelne gesündigt haben.
Und daß diese, zumal die christlich Gesinnten unter ihnen, nicht dagegen Protest
erhoben haben, daß die gläubigen Geistlichen nicht Wortführer des Rechts
gegen das Unrecht gewesen sind, daß nur vereinzelt ihre Stimme hörbar ge¬
worden ist, wie sehr wir es beklagen und mißbilligen, der Mangel an Öffent¬
lichkeit des politischen und kirchlichen Lebens gereicht ihnen zur Milderung
der Schuld.

Von derartigen Verirrungen würden nun nach Baumgarten's Ueberzeu¬
gung die Vertreter des kirchlichen Lebens frei geblieben sein, wenn die Refor¬
mation eine reinliche Sonderung zwischen bürgerlicher und kirchlicher Gemeinde,
zwischen Kirche und Staat vollzogen hätte. Auch wir sind davon überzeugt,
daß die in der Reformation vollzogene Verbindung zwischen Staat und Kirche
an der Idee gemessen eine mangelhafte war, wir sind nicht blind gegen die
verderblichen Folgen, die daraus hervorgegangen sind, die Theologenherrschaft
hier, der Cüsciropapismus dort; wir haben seit mehr als einem Jahrzehnt
für die Umwandlung der Staatskirche in eine Landeskirche durch Herstellung
presbhterialer und synodaler Formen gewirkt und ihre Verwirklichung in Preußen
mit freudigem Dank begrüßt, aber alles dies hindert uns nicht, das Verfahren
der Reformatoren als ein geschichtlich nothwendiges anzusehen und die Ge¬
fahren der Staatskirche für geringer zu achten, als die Segnungen, die Kirche
und Staat von dieser empfangen haben.

Es hätte doch Baumgarten stutzig machen sollen, daß der Protestantismus
auf allen Gebieten, wo er staatliche Anerkennung fand, staatskirchliche Bil¬
dungen hervorgebracht und nur da, wo der Staat eine feindliche Stellung
gegen ihn einnahm, zu einer selbständigen Gestaltung sich entschlossen hat.

Die Gründe dieses Verfahrens der Reformatoren sind unschwer zu er¬
kenne::. Es war einmal die äußere Noth, die sie trieb. Es fragte sich, in
wessen Hand die Leitung der kirchlichen Angelegenheiten gelegt werden solle.
Wären die Bischöfe protestantisch geworden, so hätte diese Frage" sofort eine
befriedigende Erledigung gefunden. Es ist bekannt, wie besonders Melanchthon
für diese Lösung des Problems die lebhaftesten Sympathien hegte. Aber mit


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[0465] Maß nicht inne halten; aber wer uns, wie Baumgarten, in den Spiegel der Vergangenheit schauen läßt, der sollte sich von der Leidenschaftlichkeit frei halten, die dem Gegner nicht gerecht wird, weil sie ihn nicht versteht. Diese Milde des Urtheils schließt es keineswegs aus, wie wir eben schon gesagt haben, daß wir bestimmte Handlungen mit der größten sittlichen Energie verurtheilen; wir haben kein Wort der Entschuldigung, auch nicht der Milderung der Schuld für den Eidbrnch Ernst August's von Hannover, für die Demagogenhetze der Herren Schmalz und von Kcunptz. Aber wir halten es für ungerecht, eine ganze Partei für das verantwortlich zu machen, was Einzelne gesündigt haben. Und daß diese, zumal die christlich Gesinnten unter ihnen, nicht dagegen Protest erhoben haben, daß die gläubigen Geistlichen nicht Wortführer des Rechts gegen das Unrecht gewesen sind, daß nur vereinzelt ihre Stimme hörbar ge¬ worden ist, wie sehr wir es beklagen und mißbilligen, der Mangel an Öffent¬ lichkeit des politischen und kirchlichen Lebens gereicht ihnen zur Milderung der Schuld. Von derartigen Verirrungen würden nun nach Baumgarten's Ueberzeu¬ gung die Vertreter des kirchlichen Lebens frei geblieben sein, wenn die Refor¬ mation eine reinliche Sonderung zwischen bürgerlicher und kirchlicher Gemeinde, zwischen Kirche und Staat vollzogen hätte. Auch wir sind davon überzeugt, daß die in der Reformation vollzogene Verbindung zwischen Staat und Kirche an der Idee gemessen eine mangelhafte war, wir sind nicht blind gegen die verderblichen Folgen, die daraus hervorgegangen sind, die Theologenherrschaft hier, der Cüsciropapismus dort; wir haben seit mehr als einem Jahrzehnt für die Umwandlung der Staatskirche in eine Landeskirche durch Herstellung presbhterialer und synodaler Formen gewirkt und ihre Verwirklichung in Preußen mit freudigem Dank begrüßt, aber alles dies hindert uns nicht, das Verfahren der Reformatoren als ein geschichtlich nothwendiges anzusehen und die Ge¬ fahren der Staatskirche für geringer zu achten, als die Segnungen, die Kirche und Staat von dieser empfangen haben. Es hätte doch Baumgarten stutzig machen sollen, daß der Protestantismus auf allen Gebieten, wo er staatliche Anerkennung fand, staatskirchliche Bil¬ dungen hervorgebracht und nur da, wo der Staat eine feindliche Stellung gegen ihn einnahm, zu einer selbständigen Gestaltung sich entschlossen hat. Die Gründe dieses Verfahrens der Reformatoren sind unschwer zu er¬ kenne::. Es war einmal die äußere Noth, die sie trieb. Es fragte sich, in wessen Hand die Leitung der kirchlichen Angelegenheiten gelegt werden solle. Wären die Bischöfe protestantisch geworden, so hätte diese Frage" sofort eine befriedigende Erledigung gefunden. Es ist bekannt, wie besonders Melanchthon für diese Lösung des Problems die lebhaftesten Sympathien hegte. Aber mit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670/465>, abgerufen am 05.02.2025.