Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band.aber in ihrer schon stark an Hautgout streifenden Pikanterie ganz modern sind, Um seiner bestechenden Technik willen wäre auch noch das Porträt einer Kaum ein anderes Bild der gegenwärtigen Kunstausstellung ist so zeitge¬ aber in ihrer schon stark an Hautgout streifenden Pikanterie ganz modern sind, Um seiner bestechenden Technik willen wäre auch noch das Porträt einer Kaum ein anderes Bild der gegenwärtigen Kunstausstellung ist so zeitge¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0030" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/140909"/> <p xml:id="ID_79" prev="#ID_78"> aber in ihrer schon stark an Hautgout streifenden Pikanterie ganz modern sind,<lb/> so ist die Liste der nennenswerthen Porträts geschlossen. Man sieht, die Aus--<lb/> heute ist karg: von hundertzwölf Bildnissen bleibt kaum ein Dutzend übrig, das<lb/> eine ernsthafte Beachtung verdient.</p><lb/> <p xml:id="ID_80"> Um seiner bestechenden Technik willen wäre auch noch das Porträt einer<lb/> alten Dame von dem ganz ans dem linken Flügel der Realisten stehenden<lb/> Alexander Struys zu nennen, wenn der Maler nicht in der Behandlung der<lb/> welken Hände, die wie aus Seife geformt erscheinen, in jenen widerlichen<lb/> Naturalismus verfallen wäre, der schon manches seiner Werke unerträglich ge¬<lb/> macht hat. Der Maler ist aus der Antwerpener Malerschule hervorgegangen<lb/> und in jener krassen realistischen Richtung thätig, die ihre Elemente zum Theil<lb/> aus den letzten Werken des Franz Hals, zum Theil aus dem eigensinnigen<lb/> Franzosen Courbet gezogen hat. Struys, der jetzt in Weimar als Lehrer an<lb/> der Kunstschule thätig ist, bringt zu diesen Elementen persönlich noch eine emi¬<lb/> nente Kraft der Charakteristik mit; wenn es ihm gelingt, die Grenze nicht zu<lb/> überschreiten, welche die Wahrheit von der Karrikatur trennt, weiß er packende<lb/> Wirkungen zu erzielen. Ein solcher günstiger Stern hat ihm in diesem Jahre<lb/> noch bei einem zweiten Bilde geleuchtet.</p><lb/> <p xml:id="ID_81" next="#ID_82"> Kaum ein anderes Bild der gegenwärtigen Kunstausstellung ist so zeitge¬<lb/> mäß wie die soziale Tragödie, die sich auf dem seinigen zwischen zwei Personen<lb/> einerseits und der bitteren Nothwendigkeit andererseits abspielt. Vor dem Schau¬<lb/> fenster eines Schlächterladens steht ein altes Mütterchen in abgetragenen Klei¬<lb/> dern, das mit zitternden, ruuzligen Händen Kupferpfennige zählt. Das alters¬<lb/> schwache Haupt ist tief auf die Brust herabgebeugt; man kann ihre Augen<lb/> nicht sehen, aber man fühlt es: diese Augen haben durch zahllose Thränen,<lb/> welche Kummer und Noth ihnen abgepreßt, längst ihren Glanz verloren. Denn<lb/> an der Schürze der Alten hält sich krampfhaft die kleine Enkelin fest, die ihre<lb/> stieren Blicke instinktmäßig verlangend auf die appetitliche Waare heftet, auf<lb/> das strotzende Rindfleisch und die leckeren Würste, die verführerisch hinter den<lb/> Scheiben winken. Aus den hohlen Wangen, aus den eingefallenen glanzlosen<lb/> Augen, aus den blauen Lippen, aus jeder Falte des armseligen Kleides guckt<lb/> das Elend und der Hunger. Mit einer überzeugenden Wahrheit, einer flam¬<lb/> menden Beredtsamkeit, gegen welche alle Flugschriften und Hetzartikel der Sozial¬<lb/> demokraten wie Spreu im Winde verwehen, hat der Maler hier eine der Nacht¬<lb/> seiten der modernen Gesellschaft aufgedeckt und eine bittere Anklage gegen sie<lb/> geschleudert. Aber diese offenkundige Tendenz tritt uns zu brutal entgegen.<lb/> So große Hochachtung uns das eminente Talent des Malers abzwingt, die<lb/> letzte Wirkung seines Bildes ist eine tiefe Verstimmung, und eine solche im<lb/> Herzen des Beschauers zu erregen, das widerspricht dem innersten Wesen des</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0030]
aber in ihrer schon stark an Hautgout streifenden Pikanterie ganz modern sind,
so ist die Liste der nennenswerthen Porträts geschlossen. Man sieht, die Aus--
heute ist karg: von hundertzwölf Bildnissen bleibt kaum ein Dutzend übrig, das
eine ernsthafte Beachtung verdient.
Um seiner bestechenden Technik willen wäre auch noch das Porträt einer
alten Dame von dem ganz ans dem linken Flügel der Realisten stehenden
Alexander Struys zu nennen, wenn der Maler nicht in der Behandlung der
welken Hände, die wie aus Seife geformt erscheinen, in jenen widerlichen
Naturalismus verfallen wäre, der schon manches seiner Werke unerträglich ge¬
macht hat. Der Maler ist aus der Antwerpener Malerschule hervorgegangen
und in jener krassen realistischen Richtung thätig, die ihre Elemente zum Theil
aus den letzten Werken des Franz Hals, zum Theil aus dem eigensinnigen
Franzosen Courbet gezogen hat. Struys, der jetzt in Weimar als Lehrer an
der Kunstschule thätig ist, bringt zu diesen Elementen persönlich noch eine emi¬
nente Kraft der Charakteristik mit; wenn es ihm gelingt, die Grenze nicht zu
überschreiten, welche die Wahrheit von der Karrikatur trennt, weiß er packende
Wirkungen zu erzielen. Ein solcher günstiger Stern hat ihm in diesem Jahre
noch bei einem zweiten Bilde geleuchtet.
Kaum ein anderes Bild der gegenwärtigen Kunstausstellung ist so zeitge¬
mäß wie die soziale Tragödie, die sich auf dem seinigen zwischen zwei Personen
einerseits und der bitteren Nothwendigkeit andererseits abspielt. Vor dem Schau¬
fenster eines Schlächterladens steht ein altes Mütterchen in abgetragenen Klei¬
dern, das mit zitternden, ruuzligen Händen Kupferpfennige zählt. Das alters¬
schwache Haupt ist tief auf die Brust herabgebeugt; man kann ihre Augen
nicht sehen, aber man fühlt es: diese Augen haben durch zahllose Thränen,
welche Kummer und Noth ihnen abgepreßt, längst ihren Glanz verloren. Denn
an der Schürze der Alten hält sich krampfhaft die kleine Enkelin fest, die ihre
stieren Blicke instinktmäßig verlangend auf die appetitliche Waare heftet, auf
das strotzende Rindfleisch und die leckeren Würste, die verführerisch hinter den
Scheiben winken. Aus den hohlen Wangen, aus den eingefallenen glanzlosen
Augen, aus den blauen Lippen, aus jeder Falte des armseligen Kleides guckt
das Elend und der Hunger. Mit einer überzeugenden Wahrheit, einer flam¬
menden Beredtsamkeit, gegen welche alle Flugschriften und Hetzartikel der Sozial¬
demokraten wie Spreu im Winde verwehen, hat der Maler hier eine der Nacht¬
seiten der modernen Gesellschaft aufgedeckt und eine bittere Anklage gegen sie
geschleudert. Aber diese offenkundige Tendenz tritt uns zu brutal entgegen.
So große Hochachtung uns das eminente Talent des Malers abzwingt, die
letzte Wirkung seines Bildes ist eine tiefe Verstimmung, und eine solche im
Herzen des Beschauers zu erregen, das widerspricht dem innersten Wesen des
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