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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band.

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Gesetz, welches vorläufig für Eisenbahnen, Bergwerke, Steinbrüche, Gruben
und Fabriken gilt, weist nur bei Eisenbahnen dem Unternehmer den Beweis
dafür zu, daß der Unfall durch höhere Gewalt oder durch eigenes Verschulden
verursacht ist, während in allen übrigen Fällen der Verunglückte oder seine
Hinterbliebenen zu erhärten haben, daß die Schuld aus den Unternehmer oder
seine Beamten fällt. Die Sicherung der Arbeiter gegen Beeinträchtigung oder
Vernichtung ihrer Erwerbsthätigkeit, die dadurch erreicht werden soll, wird
aber völlig illusorisch gemacht, indem der Arbeitgeber einfach nur eine Sicherung
gegen die finanzielle Schädigung sucht, die ihm etwa aus dem Gesetze erwachsen
könnte, die Haftpflicht auf eine Unfallversicheruugs-Gesellschaft überträgt, der¬
selben die Regulirung der Ansprüche verletzter Arbeiter überläßt und sich um
Gesundheit und Leben seiner Arbeiter nunmehr wo möglich gnr nicht mehr
kümmert.

Damit ist aber der ganzen Haftpflicht die Spitze abgebrochen; statt die
Gegensätze in der Industrie zu versöhnen, schafft sie vielmehr ewige Unzufrieden¬
heit. Bei Verhandlungen über Berechtigung und Werth der erhobenen Ansprüche
tritt nicht selten der Fall ein, daß der Fabrikant, um die Forderungen der
Arbeiter überhaupt möglichst niedrig zu halten, seine Ansicht eher zu Gunsten
der Versicherungsgesellschaft als seiner Arbeiter einrichtet. Dies erschwert die
gütliche Einigung, die ohnehin nicht leicht ist, weil einerseits der Arbeiter von
seinen guten Freunden, zu denen in solchen Fällen noch gewissenlose Wiulel-
kousuleuten hinzutreten, aufgehetzt wird und anderseits bei vielen Versicherungs-
gesellschaften die Praxis sich ausgebildet hat, prinzipiell keine Entschädigung
zu zahlen, ohne von den Gerichten verurtheilt zu sein. Zudem erlischt der
Anspruch auf Schadenersatz in zwei Jahren, und so schreitet der Arbeiter zum
Prozeß. Die erste Folge ist dann meist seine Entlassung, weil es sich mit der
Erhaltung der Disziplin in der Fabrik nicht gut verträgt, daß Arbeitgeber und
Arbeiter mit einander Prozessiren. Vor dieser Eventualität schreckt mancher
Arbeiter zurück; die augenblickliche Existenz ist ihm lieber, als der immerhin sehr
unsichere Ausgang eines Prozesses, unsicher auch deshalb, weil er auf das Zeug¬
niß seiner Mitarbeiter, die nicht seinetwillen ihre Stellung verlieren wollen, nicht
immer rechnen kann und weil ihm die Mittel fehle", sich den nöthigen Rechtsbei¬
stand zu verschaffen. Läßt er sich aber doch auf den gerichtlichen Weg ein, so tritt
die Versicherungsgesellschaft an Stelle des verklagten Unternehmers und führt
den Prozeß. Während der Klüger den Beweis zu erbringen hat, daß er durch
die Schuld seines Brodherrn verunglückt ist, tritt ihn: der sachverständige Be¬
amte entgegen und erbietet sich zum Gegenbeweis; bei seiner großen Routine
wird es ihm nicht schwer, dem Verunglückten ein eigenes Verschulden nachzu¬
weisen. In der Regel schleppen sich die Prozesse lange Jahre fort; der


Gesetz, welches vorläufig für Eisenbahnen, Bergwerke, Steinbrüche, Gruben
und Fabriken gilt, weist nur bei Eisenbahnen dem Unternehmer den Beweis
dafür zu, daß der Unfall durch höhere Gewalt oder durch eigenes Verschulden
verursacht ist, während in allen übrigen Fällen der Verunglückte oder seine
Hinterbliebenen zu erhärten haben, daß die Schuld aus den Unternehmer oder
seine Beamten fällt. Die Sicherung der Arbeiter gegen Beeinträchtigung oder
Vernichtung ihrer Erwerbsthätigkeit, die dadurch erreicht werden soll, wird
aber völlig illusorisch gemacht, indem der Arbeitgeber einfach nur eine Sicherung
gegen die finanzielle Schädigung sucht, die ihm etwa aus dem Gesetze erwachsen
könnte, die Haftpflicht auf eine Unfallversicheruugs-Gesellschaft überträgt, der¬
selben die Regulirung der Ansprüche verletzter Arbeiter überläßt und sich um
Gesundheit und Leben seiner Arbeiter nunmehr wo möglich gnr nicht mehr
kümmert.

Damit ist aber der ganzen Haftpflicht die Spitze abgebrochen; statt die
Gegensätze in der Industrie zu versöhnen, schafft sie vielmehr ewige Unzufrieden¬
heit. Bei Verhandlungen über Berechtigung und Werth der erhobenen Ansprüche
tritt nicht selten der Fall ein, daß der Fabrikant, um die Forderungen der
Arbeiter überhaupt möglichst niedrig zu halten, seine Ansicht eher zu Gunsten
der Versicherungsgesellschaft als seiner Arbeiter einrichtet. Dies erschwert die
gütliche Einigung, die ohnehin nicht leicht ist, weil einerseits der Arbeiter von
seinen guten Freunden, zu denen in solchen Fällen noch gewissenlose Wiulel-
kousuleuten hinzutreten, aufgehetzt wird und anderseits bei vielen Versicherungs-
gesellschaften die Praxis sich ausgebildet hat, prinzipiell keine Entschädigung
zu zahlen, ohne von den Gerichten verurtheilt zu sein. Zudem erlischt der
Anspruch auf Schadenersatz in zwei Jahren, und so schreitet der Arbeiter zum
Prozeß. Die erste Folge ist dann meist seine Entlassung, weil es sich mit der
Erhaltung der Disziplin in der Fabrik nicht gut verträgt, daß Arbeitgeber und
Arbeiter mit einander Prozessiren. Vor dieser Eventualität schreckt mancher
Arbeiter zurück; die augenblickliche Existenz ist ihm lieber, als der immerhin sehr
unsichere Ausgang eines Prozesses, unsicher auch deshalb, weil er auf das Zeug¬
niß seiner Mitarbeiter, die nicht seinetwillen ihre Stellung verlieren wollen, nicht
immer rechnen kann und weil ihm die Mittel fehle», sich den nöthigen Rechtsbei¬
stand zu verschaffen. Läßt er sich aber doch auf den gerichtlichen Weg ein, so tritt
die Versicherungsgesellschaft an Stelle des verklagten Unternehmers und führt
den Prozeß. Während der Klüger den Beweis zu erbringen hat, daß er durch
die Schuld seines Brodherrn verunglückt ist, tritt ihn: der sachverständige Be¬
amte entgegen und erbietet sich zum Gegenbeweis; bei seiner großen Routine
wird es ihm nicht schwer, dem Verunglückten ein eigenes Verschulden nachzu¬
weisen. In der Regel schleppen sich die Prozesse lange Jahre fort; der


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[0299] Gesetz, welches vorläufig für Eisenbahnen, Bergwerke, Steinbrüche, Gruben und Fabriken gilt, weist nur bei Eisenbahnen dem Unternehmer den Beweis dafür zu, daß der Unfall durch höhere Gewalt oder durch eigenes Verschulden verursacht ist, während in allen übrigen Fällen der Verunglückte oder seine Hinterbliebenen zu erhärten haben, daß die Schuld aus den Unternehmer oder seine Beamten fällt. Die Sicherung der Arbeiter gegen Beeinträchtigung oder Vernichtung ihrer Erwerbsthätigkeit, die dadurch erreicht werden soll, wird aber völlig illusorisch gemacht, indem der Arbeitgeber einfach nur eine Sicherung gegen die finanzielle Schädigung sucht, die ihm etwa aus dem Gesetze erwachsen könnte, die Haftpflicht auf eine Unfallversicheruugs-Gesellschaft überträgt, der¬ selben die Regulirung der Ansprüche verletzter Arbeiter überläßt und sich um Gesundheit und Leben seiner Arbeiter nunmehr wo möglich gnr nicht mehr kümmert. Damit ist aber der ganzen Haftpflicht die Spitze abgebrochen; statt die Gegensätze in der Industrie zu versöhnen, schafft sie vielmehr ewige Unzufrieden¬ heit. Bei Verhandlungen über Berechtigung und Werth der erhobenen Ansprüche tritt nicht selten der Fall ein, daß der Fabrikant, um die Forderungen der Arbeiter überhaupt möglichst niedrig zu halten, seine Ansicht eher zu Gunsten der Versicherungsgesellschaft als seiner Arbeiter einrichtet. Dies erschwert die gütliche Einigung, die ohnehin nicht leicht ist, weil einerseits der Arbeiter von seinen guten Freunden, zu denen in solchen Fällen noch gewissenlose Wiulel- kousuleuten hinzutreten, aufgehetzt wird und anderseits bei vielen Versicherungs- gesellschaften die Praxis sich ausgebildet hat, prinzipiell keine Entschädigung zu zahlen, ohne von den Gerichten verurtheilt zu sein. Zudem erlischt der Anspruch auf Schadenersatz in zwei Jahren, und so schreitet der Arbeiter zum Prozeß. Die erste Folge ist dann meist seine Entlassung, weil es sich mit der Erhaltung der Disziplin in der Fabrik nicht gut verträgt, daß Arbeitgeber und Arbeiter mit einander Prozessiren. Vor dieser Eventualität schreckt mancher Arbeiter zurück; die augenblickliche Existenz ist ihm lieber, als der immerhin sehr unsichere Ausgang eines Prozesses, unsicher auch deshalb, weil er auf das Zeug¬ niß seiner Mitarbeiter, die nicht seinetwillen ihre Stellung verlieren wollen, nicht immer rechnen kann und weil ihm die Mittel fehle», sich den nöthigen Rechtsbei¬ stand zu verschaffen. Läßt er sich aber doch auf den gerichtlichen Weg ein, so tritt die Versicherungsgesellschaft an Stelle des verklagten Unternehmers und führt den Prozeß. Während der Klüger den Beweis zu erbringen hat, daß er durch die Schuld seines Brodherrn verunglückt ist, tritt ihn: der sachverständige Be¬ amte entgegen und erbietet sich zum Gegenbeweis; bei seiner großen Routine wird es ihm nicht schwer, dem Verunglückten ein eigenes Verschulden nachzu¬ weisen. In der Regel schleppen sich die Prozesse lange Jahre fort; der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670/299>, abgerufen am 05.02.2025.