Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

den Leuten aus einem Büchlein eine -- selbstverständlich nihilistisch zugespitzte --
Erzählung zum Besten. Endlich aber beginnt sie auf vieles Bitten auch noch
jene Schrift zu lesen. "Anfangs hörten sie aufmerksam zu. Aber da kamen
noch ein paar Leute; die jungen Arbeiter fingen an einander zu begrüßen und
die Vorlesung zu stören. Dann kam auch ein entlassener Soldat mit einer
neuen Uhr, und einige von meinen Zuhörern beschäftigten sich damit sie zu be¬
trachten. Ich begann die Geduld zu verlieren, was denn aus meinem Lesen
und meinen Blicken deutlich wurde. Inzwischen kamen meine Bauern ans
ihren Häusern und begannen sich vorsichtig am Orte der Zusammenkunft ein¬
zustellen. Sie hatten schon einen kleinen Trupp neben einer Hütte gebildet,
als sie bemerkten, was auf der Gasse vorging, nämlich die Gruppe von Arbeitern
und mich mitten darunter. Ich fuhr auf vor Ungeduld über ihre Ängstlich¬
keit, doch die Alten sahen sich um und gingen davon. Was mußte das auch
für eine Schrift sein, die man auf der Straße am hellen lichten Tage unter
dem ersten besten zufammengelaufenen Haufen vorlesen konnte! Welcher Leicht¬
sinn, welche Profanirung!" Die einen also, welche zufällig dazu kommen,
hören nicht auf die Vorleserin, die andern, welche sie bestellt hat, haben das
Ganze für ein so wichtiges und geheimnißvoll zu behandelndes Vorhaben ge¬
halten, daß sie entrüstet sind, als der erste beste Trupp derselben Mittheilung
gewürdigt wird. In jedem Falle ist auch hier der Erfolg gleich Null.

Um das Mißgeschick voll zu machen, erfährt unsere Nihilistin bald darauf,
daß sie die Aufmerksamkeit der Gensdcirmerie erregt habe. Da ist ihres Blei¬
bens nicht länger indem Orte, und damit zerreißen auch alle Fäden, die sie
mit den Fabrikarbeitern angeknüpft hat.

In einem Kreisstädtchen nimmt sie einen allerdings nur ganz kurzen Auf¬
enthalt, um "nothwendige Nachrichten", jedenfalls Instruktionen des Komites,
das sie ausgesendet, zu erwarten. Sie hat sich bei einer wohlhabenden Fran
eingemiethet, deren Angehörige wie fast alle Männer des Städtchens ans einige
Zeit nach südlicher gelegenen Gegenden gewandert sind, um dort lohnendere
Arbeit zu suchen. Ihre Wirthin hat währenddem ein paar Tagelöhner ange¬
nommen, um das Nothwendigste in Feld und Garten besorgen zu lassen. Der
eine derselben, aus einem benachbarten Dorfe stammend, erzählt unsrer Be¬
richterstatterin schon am zweiten Tage eine Geschichte, die in ihr die freudige
Hoffnung erweckt, einen überaus günstigen Boden für die Aussaat revolutio¬
närer Ideen gefunden zu haben. Wir lassen sie wörtlich folgen und schicken
nur die Bemerkung voraus, daß der Vorgang mit den im Jahre 1870 im
Gouvernement Kijew ausbrechenden Banernunruhen ohne Zweifel im Zu¬
sammenhange steht. "Vor drei Jahren," meldet ihr Gewährsmann, "hatten wir


den Leuten aus einem Büchlein eine — selbstverständlich nihilistisch zugespitzte —
Erzählung zum Besten. Endlich aber beginnt sie auf vieles Bitten auch noch
jene Schrift zu lesen. „Anfangs hörten sie aufmerksam zu. Aber da kamen
noch ein paar Leute; die jungen Arbeiter fingen an einander zu begrüßen und
die Vorlesung zu stören. Dann kam auch ein entlassener Soldat mit einer
neuen Uhr, und einige von meinen Zuhörern beschäftigten sich damit sie zu be¬
trachten. Ich begann die Geduld zu verlieren, was denn aus meinem Lesen
und meinen Blicken deutlich wurde. Inzwischen kamen meine Bauern ans
ihren Häusern und begannen sich vorsichtig am Orte der Zusammenkunft ein¬
zustellen. Sie hatten schon einen kleinen Trupp neben einer Hütte gebildet,
als sie bemerkten, was auf der Gasse vorging, nämlich die Gruppe von Arbeitern
und mich mitten darunter. Ich fuhr auf vor Ungeduld über ihre Ängstlich¬
keit, doch die Alten sahen sich um und gingen davon. Was mußte das auch
für eine Schrift sein, die man auf der Straße am hellen lichten Tage unter
dem ersten besten zufammengelaufenen Haufen vorlesen konnte! Welcher Leicht¬
sinn, welche Profanirung!" Die einen also, welche zufällig dazu kommen,
hören nicht auf die Vorleserin, die andern, welche sie bestellt hat, haben das
Ganze für ein so wichtiges und geheimnißvoll zu behandelndes Vorhaben ge¬
halten, daß sie entrüstet sind, als der erste beste Trupp derselben Mittheilung
gewürdigt wird. In jedem Falle ist auch hier der Erfolg gleich Null.

Um das Mißgeschick voll zu machen, erfährt unsere Nihilistin bald darauf,
daß sie die Aufmerksamkeit der Gensdcirmerie erregt habe. Da ist ihres Blei¬
bens nicht länger indem Orte, und damit zerreißen auch alle Fäden, die sie
mit den Fabrikarbeitern angeknüpft hat.

In einem Kreisstädtchen nimmt sie einen allerdings nur ganz kurzen Auf¬
enthalt, um „nothwendige Nachrichten", jedenfalls Instruktionen des Komites,
das sie ausgesendet, zu erwarten. Sie hat sich bei einer wohlhabenden Fran
eingemiethet, deren Angehörige wie fast alle Männer des Städtchens ans einige
Zeit nach südlicher gelegenen Gegenden gewandert sind, um dort lohnendere
Arbeit zu suchen. Ihre Wirthin hat währenddem ein paar Tagelöhner ange¬
nommen, um das Nothwendigste in Feld und Garten besorgen zu lassen. Der
eine derselben, aus einem benachbarten Dorfe stammend, erzählt unsrer Be¬
richterstatterin schon am zweiten Tage eine Geschichte, die in ihr die freudige
Hoffnung erweckt, einen überaus günstigen Boden für die Aussaat revolutio¬
närer Ideen gefunden zu haben. Wir lassen sie wörtlich folgen und schicken
nur die Bemerkung voraus, daß der Vorgang mit den im Jahre 1870 im
Gouvernement Kijew ausbrechenden Banernunruhen ohne Zweifel im Zu¬
sammenhange steht. „Vor drei Jahren," meldet ihr Gewährsmann, „hatten wir


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0291" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/141170"/>
          <p xml:id="ID_1017" prev="#ID_1016"> den Leuten aus einem Büchlein eine &#x2014; selbstverständlich nihilistisch zugespitzte &#x2014;<lb/>
Erzählung zum Besten. Endlich aber beginnt sie auf vieles Bitten auch noch<lb/>
jene Schrift zu lesen. &#x201E;Anfangs hörten sie aufmerksam zu. Aber da kamen<lb/>
noch ein paar Leute; die jungen Arbeiter fingen an einander zu begrüßen und<lb/>
die Vorlesung zu stören. Dann kam auch ein entlassener Soldat mit einer<lb/>
neuen Uhr, und einige von meinen Zuhörern beschäftigten sich damit sie zu be¬<lb/>
trachten. Ich begann die Geduld zu verlieren, was denn aus meinem Lesen<lb/>
und meinen Blicken deutlich wurde. Inzwischen kamen meine Bauern ans<lb/>
ihren Häusern und begannen sich vorsichtig am Orte der Zusammenkunft ein¬<lb/>
zustellen. Sie hatten schon einen kleinen Trupp neben einer Hütte gebildet,<lb/>
als sie bemerkten, was auf der Gasse vorging, nämlich die Gruppe von Arbeitern<lb/>
und mich mitten darunter. Ich fuhr auf vor Ungeduld über ihre Ängstlich¬<lb/>
keit, doch die Alten sahen sich um und gingen davon. Was mußte das auch<lb/>
für eine Schrift sein, die man auf der Straße am hellen lichten Tage unter<lb/>
dem ersten besten zufammengelaufenen Haufen vorlesen konnte! Welcher Leicht¬<lb/>
sinn, welche Profanirung!" Die einen also, welche zufällig dazu kommen,<lb/>
hören nicht auf die Vorleserin, die andern, welche sie bestellt hat, haben das<lb/>
Ganze für ein so wichtiges und geheimnißvoll zu behandelndes Vorhaben ge¬<lb/>
halten, daß sie entrüstet sind, als der erste beste Trupp derselben Mittheilung<lb/>
gewürdigt wird. In jedem Falle ist auch hier der Erfolg gleich Null.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1018"> Um das Mißgeschick voll zu machen, erfährt unsere Nihilistin bald darauf,<lb/>
daß sie die Aufmerksamkeit der Gensdcirmerie erregt habe. Da ist ihres Blei¬<lb/>
bens nicht länger indem Orte, und damit zerreißen auch alle Fäden, die sie<lb/>
mit den Fabrikarbeitern angeknüpft hat.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1019" next="#ID_1020"> In einem Kreisstädtchen nimmt sie einen allerdings nur ganz kurzen Auf¬<lb/>
enthalt, um &#x201E;nothwendige Nachrichten", jedenfalls Instruktionen des Komites,<lb/>
das sie ausgesendet, zu erwarten. Sie hat sich bei einer wohlhabenden Fran<lb/>
eingemiethet, deren Angehörige wie fast alle Männer des Städtchens ans einige<lb/>
Zeit nach südlicher gelegenen Gegenden gewandert sind, um dort lohnendere<lb/>
Arbeit zu suchen. Ihre Wirthin hat währenddem ein paar Tagelöhner ange¬<lb/>
nommen, um das Nothwendigste in Feld und Garten besorgen zu lassen. Der<lb/>
eine derselben, aus einem benachbarten Dorfe stammend, erzählt unsrer Be¬<lb/>
richterstatterin schon am zweiten Tage eine Geschichte, die in ihr die freudige<lb/>
Hoffnung erweckt, einen überaus günstigen Boden für die Aussaat revolutio¬<lb/>
närer Ideen gefunden zu haben. Wir lassen sie wörtlich folgen und schicken<lb/>
nur die Bemerkung voraus, daß der Vorgang mit den im Jahre 1870 im<lb/>
Gouvernement Kijew ausbrechenden Banernunruhen ohne Zweifel im Zu¬<lb/>
sammenhange steht. &#x201E;Vor drei Jahren," meldet ihr Gewährsmann, &#x201E;hatten wir</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0291] den Leuten aus einem Büchlein eine — selbstverständlich nihilistisch zugespitzte — Erzählung zum Besten. Endlich aber beginnt sie auf vieles Bitten auch noch jene Schrift zu lesen. „Anfangs hörten sie aufmerksam zu. Aber da kamen noch ein paar Leute; die jungen Arbeiter fingen an einander zu begrüßen und die Vorlesung zu stören. Dann kam auch ein entlassener Soldat mit einer neuen Uhr, und einige von meinen Zuhörern beschäftigten sich damit sie zu be¬ trachten. Ich begann die Geduld zu verlieren, was denn aus meinem Lesen und meinen Blicken deutlich wurde. Inzwischen kamen meine Bauern ans ihren Häusern und begannen sich vorsichtig am Orte der Zusammenkunft ein¬ zustellen. Sie hatten schon einen kleinen Trupp neben einer Hütte gebildet, als sie bemerkten, was auf der Gasse vorging, nämlich die Gruppe von Arbeitern und mich mitten darunter. Ich fuhr auf vor Ungeduld über ihre Ängstlich¬ keit, doch die Alten sahen sich um und gingen davon. Was mußte das auch für eine Schrift sein, die man auf der Straße am hellen lichten Tage unter dem ersten besten zufammengelaufenen Haufen vorlesen konnte! Welcher Leicht¬ sinn, welche Profanirung!" Die einen also, welche zufällig dazu kommen, hören nicht auf die Vorleserin, die andern, welche sie bestellt hat, haben das Ganze für ein so wichtiges und geheimnißvoll zu behandelndes Vorhaben ge¬ halten, daß sie entrüstet sind, als der erste beste Trupp derselben Mittheilung gewürdigt wird. In jedem Falle ist auch hier der Erfolg gleich Null. Um das Mißgeschick voll zu machen, erfährt unsere Nihilistin bald darauf, daß sie die Aufmerksamkeit der Gensdcirmerie erregt habe. Da ist ihres Blei¬ bens nicht länger indem Orte, und damit zerreißen auch alle Fäden, die sie mit den Fabrikarbeitern angeknüpft hat. In einem Kreisstädtchen nimmt sie einen allerdings nur ganz kurzen Auf¬ enthalt, um „nothwendige Nachrichten", jedenfalls Instruktionen des Komites, das sie ausgesendet, zu erwarten. Sie hat sich bei einer wohlhabenden Fran eingemiethet, deren Angehörige wie fast alle Männer des Städtchens ans einige Zeit nach südlicher gelegenen Gegenden gewandert sind, um dort lohnendere Arbeit zu suchen. Ihre Wirthin hat währenddem ein paar Tagelöhner ange¬ nommen, um das Nothwendigste in Feld und Garten besorgen zu lassen. Der eine derselben, aus einem benachbarten Dorfe stammend, erzählt unsrer Be¬ richterstatterin schon am zweiten Tage eine Geschichte, die in ihr die freudige Hoffnung erweckt, einen überaus günstigen Boden für die Aussaat revolutio¬ närer Ideen gefunden zu haben. Wir lassen sie wörtlich folgen und schicken nur die Bemerkung voraus, daß der Vorgang mit den im Jahre 1870 im Gouvernement Kijew ausbrechenden Banernunruhen ohne Zweifel im Zu¬ sammenhange steht. „Vor drei Jahren," meldet ihr Gewährsmann, „hatten wir

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670/291
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670/291>, abgerufen am 10.02.2025.