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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band.

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keine ernste Gefahr für die sozialistische Sache in Deutschland; nur ihrer
bisherigen Taktik drohe eine solche, ein werthvolles Geständniß, das die¬
jenigen beachten möchten, die jedes Ausnahmegesetz von vornherein kurzweg für
nutzlos erklären. Und nun die Folgerung, welche der Russe daraus für das
zukünftige Verhalten seiner deutschen Gesinnungsgenosse!! zieht, den freundschaft¬
lichen Rath, den er ihnen dafür an die Hand giebt. "Wir denken, schreibt er,
daß diese Folgen des Ereignisses neues Leben in die sozialistische Partei in
Deutschland bringen werden; sie drängen die energischeren und ehrlicherem Leute
ans ihrer Mitte auf einen mehr revolutionären Weg. Das Attentat, welches
alle Grillen der Parteichefs von friedlich-parlamentarischen Mitteln über den
Häuser geworfen hat, wird dazu dienen, mit einem Schlage den fortgeschrit¬
teneren Theil des deutschen Volkes auf eine höhere Stufe der Entwicklung zu
führen. Wir erkennen die bisherigen Verdienste der jetzigen sozialdemokratischen
Führer, Dank welchen in Deutschland eine so ausgedehnte Bewegung ent¬
standen ist, vollkommen an; aber das darf uns nicht hindern zu bekennen, daß
wenn sie die logischen Konsequenzen ihres Programms (nämlich der friedlichen
Propaganda auf gesetzlichem Boden) zu Ende führten, sie die fernere revolu¬
tionäre Entwickelung des dentschen Volkes verhindern oder zum wenigsten ver¬
zögern würden."

Der Artikel bedarf wahrlich keines Kommentars. Zu offner Erhebung
ruft er die deutscheu Sozialisten auf, um den Gefahren, die ihrer bisherigen
Taktik infolge der Kaiserattentate drohen, zuvorzukommen, da sie mit den bis
jetzt angewandten Mitteln nicht zu überwinden seien. Ueber Hödel's Verbrechen
selbst fällt nicht ein Wort des Abscheus; stillschweigend wird es vielmehr als
sehr erklärlich betrachtet, wenn mich nicht direkt vertheidigt oder gar gerechtfertigt.

Von einer solchen Zurückhaltung des Urtheils ist bei dem Mitarbeiter der
"Obschtschina", der den zweiten Artikel über denselben Gegenstand schrieb und
mit seinem vollen Namen (Dmitrij Klemeuz) unterzeichnete, keine Spur mehr
zu finden: aus jeder Zeile spricht hier ein leidenschaftlicher Fanatismus.

Gleich der Eingang seines Aufsatzes ist dafür charakteristisch. Um die an¬
gebliche Unnatur unsrer gegenwärtigen Zustände in's hellste Licht zu setzen,
stellt er der verhältnißinüßigen Gleichgiltigkeit, mit welcher Europa die schreck¬
lichen Menschenopfer des russisch-türkischen Krieges ausgenommen habe, die
ungeheure Erregung durch die Berliner Attentate gegenüber: dort seien Tau¬
sende und Abertausende gefallen, hier ein Einziger verwundet worden! Wie er
diesen "Einzigen" charakterisirt, das ist in einem deutschen Blatte nicht un¬
theilbar. Natürlich erscheint ihm nun die leidenschaftliche Trauer und Ent-
rüstung, welche unser Volk bei jenem beispiellosen Verbrechen empfand und
zum Ausdruck brachte, als Servilismus -- so völlig unzugänglich der einfach-


keine ernste Gefahr für die sozialistische Sache in Deutschland; nur ihrer
bisherigen Taktik drohe eine solche, ein werthvolles Geständniß, das die¬
jenigen beachten möchten, die jedes Ausnahmegesetz von vornherein kurzweg für
nutzlos erklären. Und nun die Folgerung, welche der Russe daraus für das
zukünftige Verhalten seiner deutschen Gesinnungsgenosse!! zieht, den freundschaft¬
lichen Rath, den er ihnen dafür an die Hand giebt. „Wir denken, schreibt er,
daß diese Folgen des Ereignisses neues Leben in die sozialistische Partei in
Deutschland bringen werden; sie drängen die energischeren und ehrlicherem Leute
ans ihrer Mitte auf einen mehr revolutionären Weg. Das Attentat, welches
alle Grillen der Parteichefs von friedlich-parlamentarischen Mitteln über den
Häuser geworfen hat, wird dazu dienen, mit einem Schlage den fortgeschrit¬
teneren Theil des deutschen Volkes auf eine höhere Stufe der Entwicklung zu
führen. Wir erkennen die bisherigen Verdienste der jetzigen sozialdemokratischen
Führer, Dank welchen in Deutschland eine so ausgedehnte Bewegung ent¬
standen ist, vollkommen an; aber das darf uns nicht hindern zu bekennen, daß
wenn sie die logischen Konsequenzen ihres Programms (nämlich der friedlichen
Propaganda auf gesetzlichem Boden) zu Ende führten, sie die fernere revolu¬
tionäre Entwickelung des dentschen Volkes verhindern oder zum wenigsten ver¬
zögern würden."

Der Artikel bedarf wahrlich keines Kommentars. Zu offner Erhebung
ruft er die deutscheu Sozialisten auf, um den Gefahren, die ihrer bisherigen
Taktik infolge der Kaiserattentate drohen, zuvorzukommen, da sie mit den bis
jetzt angewandten Mitteln nicht zu überwinden seien. Ueber Hödel's Verbrechen
selbst fällt nicht ein Wort des Abscheus; stillschweigend wird es vielmehr als
sehr erklärlich betrachtet, wenn mich nicht direkt vertheidigt oder gar gerechtfertigt.

Von einer solchen Zurückhaltung des Urtheils ist bei dem Mitarbeiter der
„Obschtschina", der den zweiten Artikel über denselben Gegenstand schrieb und
mit seinem vollen Namen (Dmitrij Klemeuz) unterzeichnete, keine Spur mehr
zu finden: aus jeder Zeile spricht hier ein leidenschaftlicher Fanatismus.

Gleich der Eingang seines Aufsatzes ist dafür charakteristisch. Um die an¬
gebliche Unnatur unsrer gegenwärtigen Zustände in's hellste Licht zu setzen,
stellt er der verhältnißinüßigen Gleichgiltigkeit, mit welcher Europa die schreck¬
lichen Menschenopfer des russisch-türkischen Krieges ausgenommen habe, die
ungeheure Erregung durch die Berliner Attentate gegenüber: dort seien Tau¬
sende und Abertausende gefallen, hier ein Einziger verwundet worden! Wie er
diesen „Einzigen" charakterisirt, das ist in einem deutschen Blatte nicht un¬
theilbar. Natürlich erscheint ihm nun die leidenschaftliche Trauer und Ent-
rüstung, welche unser Volk bei jenem beispiellosen Verbrechen empfand und
zum Ausdruck brachte, als Servilismus — so völlig unzugänglich der einfach-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157661/478>, abgerufen am 22.07.2024.