Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

schuld von der Partei abzuwälzen, zum Theil noch ehe ihr eine solche nnfge-
bnrdet worden, war die russische Sozialisteupresse weit entfernt von dieser In¬
konsequenz.

Als eines ihrer hervorragendsten Organe erscheint die "Obschtschina" ("die
Kommune"), deren Redaktion in Genf ihren Sitz hat, denn in Rußland selbst
würde ein Blatt dieser Art unmöglich sein. Sie hat ihre Vertretungen außer¬
dem in Paris, Nizza, Bukarest, Belgrad, Berlin und Prag, nicht weniger ihre
Korrespondenten in allen Ländern, wo die rothe Revolution den Boden der
bestehenden Ordnung unterwühlt. Doch ist sie offenbar nicht auf die Wirkung
unter den Massen des russischen Volkes berechnet. Dem würde schon ihr
Charakter als Monatsschrift nicht entsprechen, noch weniger die wissenschaftliche
Fassung vieler Artikel. Sie sucht ihr Publikum unter den Russen der gebil¬
deten Stände, die ja bis jetzt der eigentliche Herd des Nihilismus gewesen sind.
Nicht also halbgebildete Demagogen sind es, welche in deu Spalten der "Obscht¬
schina" ihre Anschauungen entwickeln, nicht an die Leidenschaften roher Massen
wenden sie sich; Männer vielmehr von wissenschaftlicher Bildung sind ihre Mit¬
arbeiter, und auf Leute derselben Art wollen sie wirken. Um so greller ist das
Licht, das aus ihren Anpassungen auf den russischen Sozialismus fällt.

Zwei Artikel widmet die "Obschtschina" deu Attentaten auf unsern Kaiser.
Der eine, im Maiheft, in den ersten Tagen des Juni geschrieben, als eben die
Depesche über das zweite Attentat eingelaufen war, beschäftigt sich ausschlie߬
lich noch mit dem Verbrechen Hödel's und beobachtet im Ganzen noch' eine
verhältnißmäßig reservirte Haltung. Mit voller Leidenschaft dagegen, mit
einem Fanatismus sondergleichen führt der Verfasser des zweiten Artikels (im
Doppelheft für Juni und Juli) das Wort, indem er beide Attentate zusammen¬
faßt und beide beurtheilt.

Wir führen zunächst aus dem ersten die Hauptgedanken an. Nachdem der
Alttor ausführlich und in ruhigem Tone das Vorleben und den Charakter des
Verbrechers besprochen, dabei übrigens zum Theil gestützt auf deu Bericht eiues
Leipziger Korrespondenten, der mit Hödel persönlich bekannt gewesen, und voll¬
kommen richtig jene Sucht eine große Rolle zu spielen, von sich reden zu machen,
die bei dem Unseligen ja bis zum letzten Augenblicke sich gezeigt, hervorge¬
hoben hat, betont er nachdrücklich, daß, wenn auch der nun aufgelöste Reichs¬
tag das Sozialisteugesetz abgelehnt habe, doch damit die Lage der sozialdemo¬
kratischen Partei in Deutschland nicht im Mindesten gebessert sei. Denn aller¬
orten habe die schärfste "Verfolgung" der sozialistischen Presse und der sozia¬
listischen Führer begonnen. Die Liste der Belege dafür beweist in der That
fleißiges Studium der deutschen Organe der Partei und wohl auch eine große
Ausdehnung der Korrespondenz. Trotzdem sieht der Verfasser darin an sich


schuld von der Partei abzuwälzen, zum Theil noch ehe ihr eine solche nnfge-
bnrdet worden, war die russische Sozialisteupresse weit entfernt von dieser In¬
konsequenz.

Als eines ihrer hervorragendsten Organe erscheint die „Obschtschina" („die
Kommune"), deren Redaktion in Genf ihren Sitz hat, denn in Rußland selbst
würde ein Blatt dieser Art unmöglich sein. Sie hat ihre Vertretungen außer¬
dem in Paris, Nizza, Bukarest, Belgrad, Berlin und Prag, nicht weniger ihre
Korrespondenten in allen Ländern, wo die rothe Revolution den Boden der
bestehenden Ordnung unterwühlt. Doch ist sie offenbar nicht auf die Wirkung
unter den Massen des russischen Volkes berechnet. Dem würde schon ihr
Charakter als Monatsschrift nicht entsprechen, noch weniger die wissenschaftliche
Fassung vieler Artikel. Sie sucht ihr Publikum unter den Russen der gebil¬
deten Stände, die ja bis jetzt der eigentliche Herd des Nihilismus gewesen sind.
Nicht also halbgebildete Demagogen sind es, welche in deu Spalten der „Obscht¬
schina" ihre Anschauungen entwickeln, nicht an die Leidenschaften roher Massen
wenden sie sich; Männer vielmehr von wissenschaftlicher Bildung sind ihre Mit¬
arbeiter, und auf Leute derselben Art wollen sie wirken. Um so greller ist das
Licht, das aus ihren Anpassungen auf den russischen Sozialismus fällt.

Zwei Artikel widmet die „Obschtschina" deu Attentaten auf unsern Kaiser.
Der eine, im Maiheft, in den ersten Tagen des Juni geschrieben, als eben die
Depesche über das zweite Attentat eingelaufen war, beschäftigt sich ausschlie߬
lich noch mit dem Verbrechen Hödel's und beobachtet im Ganzen noch' eine
verhältnißmäßig reservirte Haltung. Mit voller Leidenschaft dagegen, mit
einem Fanatismus sondergleichen führt der Verfasser des zweiten Artikels (im
Doppelheft für Juni und Juli) das Wort, indem er beide Attentate zusammen¬
faßt und beide beurtheilt.

Wir führen zunächst aus dem ersten die Hauptgedanken an. Nachdem der
Alttor ausführlich und in ruhigem Tone das Vorleben und den Charakter des
Verbrechers besprochen, dabei übrigens zum Theil gestützt auf deu Bericht eiues
Leipziger Korrespondenten, der mit Hödel persönlich bekannt gewesen, und voll¬
kommen richtig jene Sucht eine große Rolle zu spielen, von sich reden zu machen,
die bei dem Unseligen ja bis zum letzten Augenblicke sich gezeigt, hervorge¬
hoben hat, betont er nachdrücklich, daß, wenn auch der nun aufgelöste Reichs¬
tag das Sozialisteugesetz abgelehnt habe, doch damit die Lage der sozialdemo¬
kratischen Partei in Deutschland nicht im Mindesten gebessert sei. Denn aller¬
orten habe die schärfste „Verfolgung" der sozialistischen Presse und der sozia¬
listischen Führer begonnen. Die Liste der Belege dafür beweist in der That
fleißiges Studium der deutschen Organe der Partei und wohl auch eine große
Ausdehnung der Korrespondenz. Trotzdem sieht der Verfasser darin an sich


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0477" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/140828"/>
          <p xml:id="ID_1450" prev="#ID_1449"> schuld von der Partei abzuwälzen, zum Theil noch ehe ihr eine solche nnfge-<lb/>
bnrdet worden, war die russische Sozialisteupresse weit entfernt von dieser In¬<lb/>
konsequenz.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1451"> Als eines ihrer hervorragendsten Organe erscheint die &#x201E;Obschtschina" (&#x201E;die<lb/>
Kommune"), deren Redaktion in Genf ihren Sitz hat, denn in Rußland selbst<lb/>
würde ein Blatt dieser Art unmöglich sein. Sie hat ihre Vertretungen außer¬<lb/>
dem in Paris, Nizza, Bukarest, Belgrad, Berlin und Prag, nicht weniger ihre<lb/>
Korrespondenten in allen Ländern, wo die rothe Revolution den Boden der<lb/>
bestehenden Ordnung unterwühlt. Doch ist sie offenbar nicht auf die Wirkung<lb/>
unter den Massen des russischen Volkes berechnet. Dem würde schon ihr<lb/>
Charakter als Monatsschrift nicht entsprechen, noch weniger die wissenschaftliche<lb/>
Fassung vieler Artikel. Sie sucht ihr Publikum unter den Russen der gebil¬<lb/>
deten Stände, die ja bis jetzt der eigentliche Herd des Nihilismus gewesen sind.<lb/>
Nicht also halbgebildete Demagogen sind es, welche in deu Spalten der &#x201E;Obscht¬<lb/>
schina" ihre Anschauungen entwickeln, nicht an die Leidenschaften roher Massen<lb/>
wenden sie sich; Männer vielmehr von wissenschaftlicher Bildung sind ihre Mit¬<lb/>
arbeiter, und auf Leute derselben Art wollen sie wirken. Um so greller ist das<lb/>
Licht, das aus ihren Anpassungen auf den russischen Sozialismus fällt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1452"> Zwei Artikel widmet die &#x201E;Obschtschina" deu Attentaten auf unsern Kaiser.<lb/>
Der eine, im Maiheft, in den ersten Tagen des Juni geschrieben, als eben die<lb/>
Depesche über das zweite Attentat eingelaufen war, beschäftigt sich ausschlie߬<lb/>
lich noch mit dem Verbrechen Hödel's und beobachtet im Ganzen noch' eine<lb/>
verhältnißmäßig reservirte Haltung. Mit voller Leidenschaft dagegen, mit<lb/>
einem Fanatismus sondergleichen führt der Verfasser des zweiten Artikels (im<lb/>
Doppelheft für Juni und Juli) das Wort, indem er beide Attentate zusammen¬<lb/>
faßt und beide beurtheilt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1453" next="#ID_1454"> Wir führen zunächst aus dem ersten die Hauptgedanken an. Nachdem der<lb/>
Alttor ausführlich und in ruhigem Tone das Vorleben und den Charakter des<lb/>
Verbrechers besprochen, dabei übrigens zum Theil gestützt auf deu Bericht eiues<lb/>
Leipziger Korrespondenten, der mit Hödel persönlich bekannt gewesen, und voll¬<lb/>
kommen richtig jene Sucht eine große Rolle zu spielen, von sich reden zu machen,<lb/>
die bei dem Unseligen ja bis zum letzten Augenblicke sich gezeigt, hervorge¬<lb/>
hoben hat, betont er nachdrücklich, daß, wenn auch der nun aufgelöste Reichs¬<lb/>
tag das Sozialisteugesetz abgelehnt habe, doch damit die Lage der sozialdemo¬<lb/>
kratischen Partei in Deutschland nicht im Mindesten gebessert sei. Denn aller¬<lb/>
orten habe die schärfste &#x201E;Verfolgung" der sozialistischen Presse und der sozia¬<lb/>
listischen Führer begonnen. Die Liste der Belege dafür beweist in der That<lb/>
fleißiges Studium der deutschen Organe der Partei und wohl auch eine große<lb/>
Ausdehnung der Korrespondenz. Trotzdem sieht der Verfasser darin an sich</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0477] schuld von der Partei abzuwälzen, zum Theil noch ehe ihr eine solche nnfge- bnrdet worden, war die russische Sozialisteupresse weit entfernt von dieser In¬ konsequenz. Als eines ihrer hervorragendsten Organe erscheint die „Obschtschina" („die Kommune"), deren Redaktion in Genf ihren Sitz hat, denn in Rußland selbst würde ein Blatt dieser Art unmöglich sein. Sie hat ihre Vertretungen außer¬ dem in Paris, Nizza, Bukarest, Belgrad, Berlin und Prag, nicht weniger ihre Korrespondenten in allen Ländern, wo die rothe Revolution den Boden der bestehenden Ordnung unterwühlt. Doch ist sie offenbar nicht auf die Wirkung unter den Massen des russischen Volkes berechnet. Dem würde schon ihr Charakter als Monatsschrift nicht entsprechen, noch weniger die wissenschaftliche Fassung vieler Artikel. Sie sucht ihr Publikum unter den Russen der gebil¬ deten Stände, die ja bis jetzt der eigentliche Herd des Nihilismus gewesen sind. Nicht also halbgebildete Demagogen sind es, welche in deu Spalten der „Obscht¬ schina" ihre Anschauungen entwickeln, nicht an die Leidenschaften roher Massen wenden sie sich; Männer vielmehr von wissenschaftlicher Bildung sind ihre Mit¬ arbeiter, und auf Leute derselben Art wollen sie wirken. Um so greller ist das Licht, das aus ihren Anpassungen auf den russischen Sozialismus fällt. Zwei Artikel widmet die „Obschtschina" deu Attentaten auf unsern Kaiser. Der eine, im Maiheft, in den ersten Tagen des Juni geschrieben, als eben die Depesche über das zweite Attentat eingelaufen war, beschäftigt sich ausschlie߬ lich noch mit dem Verbrechen Hödel's und beobachtet im Ganzen noch' eine verhältnißmäßig reservirte Haltung. Mit voller Leidenschaft dagegen, mit einem Fanatismus sondergleichen führt der Verfasser des zweiten Artikels (im Doppelheft für Juni und Juli) das Wort, indem er beide Attentate zusammen¬ faßt und beide beurtheilt. Wir führen zunächst aus dem ersten die Hauptgedanken an. Nachdem der Alttor ausführlich und in ruhigem Tone das Vorleben und den Charakter des Verbrechers besprochen, dabei übrigens zum Theil gestützt auf deu Bericht eiues Leipziger Korrespondenten, der mit Hödel persönlich bekannt gewesen, und voll¬ kommen richtig jene Sucht eine große Rolle zu spielen, von sich reden zu machen, die bei dem Unseligen ja bis zum letzten Augenblicke sich gezeigt, hervorge¬ hoben hat, betont er nachdrücklich, daß, wenn auch der nun aufgelöste Reichs¬ tag das Sozialisteugesetz abgelehnt habe, doch damit die Lage der sozialdemo¬ kratischen Partei in Deutschland nicht im Mindesten gebessert sei. Denn aller¬ orten habe die schärfste „Verfolgung" der sozialistischen Presse und der sozia¬ listischen Führer begonnen. Die Liste der Belege dafür beweist in der That fleißiges Studium der deutschen Organe der Partei und wohl auch eine große Ausdehnung der Korrespondenz. Trotzdem sieht der Verfasser darin an sich

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157661
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157661/477
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157661/477>, abgerufen am 22.07.2024.