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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band.

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der Welt, den Ursprung der auf der Erde lebenden Geschöpfe und die vorge¬
schichtliche Entwickelung des Menschengeschlechtes zum Gegenstande hat, einige
mehr oder minder helle Lichtblicke dar. So kann man in dem Atomenchaos,
welches der Gestaltung der Welt vorangeht, eine gewisse rohe Aehnlichkeit mit
dem Gasball finden, aus welchem die Keine-Laplace'sche Hypothese das Sonnen¬
system entstehen läßt. Vor allem merkwürdig ist aber eine Stelle, welche das
Gesetz des Kampfes um's Dasein schon neunzehn Jahrhunderte vor Darwin
ausgesprochen hat (V, 852--858, 869 fg. und 871--874):


Viele Geschlechter der lebenden Wesen
Müssen schon damals erloschen sein,
Unfähig, ihres Daseins Kette
Lcbenzeugcnd weiter zu ziehn.
Denn alle, welche du Lebenslüste
Athmen siehst, alle hat
List oder Kraft oder flüchtige Schnelle
Vom ersten Anfang schützend bewahrt.
Auch giebt es manche, die deshalb dauern,
Weil ihre Nützlichkeit uns sie empfahlen. --
Die aber, denen Natur von diesen
Gaben keine verliehen hatte, --
Diese wurden, das magst du wissen,
Andern ein Raub, eine wehrlose Beute,
Bon ihres Verhängnisses unzerreißbar',"
Netz umgarnt allzumal.

In Farben voll Lebenswahrheit glänzt das berühmte Gemälde, welches
der Dichter von der ersten Jugend des Menschengeschlechts entworfen hat
(V, 922 ff.). Wie die neuere Wissenschaft,-') so lehrt auch er, die Menschheit
habe sich erst allmählich aus dem Zustande thierischer Rohheit und Wildheit
herausgearbeitet. Die einzelnen Stufen, auf welchen Lucrez unser Geschlecht
emporsteigen läßt, sind freilich mehr ausgedacht, als auf Grund von Forsch¬
ungen festgestellt, aber auch so stimmen sie großentheils mit den Ergebnissen
der jüngsten der Wissenschaften überein. Ein Steinzeitalter kennt der Römer
uicht, sondern auf das Knittelalter, wenn wir es so nach der Hauptwaffe
nennen dürfen, folgt das des Erzes und auf dieses das des Eisengebrauches.
Die Sprache hat für Lucrez wie für die moderne Wissenschaft einen natürlichen
Ursprung. Auch die Thiere haben ja zum Theil eine, zwar wenig umfangreiche,
aber charakteristische Sprache. Die Menschensprache hat sich deshalb so weit
über die Aehnlichkeit mit der Thiersprache hinaus entwickelt, weil der Mensch
von allen Geschöpfen am höchsten begabt ist.

Ich hätte leicht die Zahl der .-.Vorahnungen" beträchtlich vermehren
können, wenn ich jede leichte Berührung mit Anschauungen der heutigen Wissen-



Vgl. Peschel, Völkerkunde p, 137 ff.

der Welt, den Ursprung der auf der Erde lebenden Geschöpfe und die vorge¬
schichtliche Entwickelung des Menschengeschlechtes zum Gegenstande hat, einige
mehr oder minder helle Lichtblicke dar. So kann man in dem Atomenchaos,
welches der Gestaltung der Welt vorangeht, eine gewisse rohe Aehnlichkeit mit
dem Gasball finden, aus welchem die Keine-Laplace'sche Hypothese das Sonnen¬
system entstehen läßt. Vor allem merkwürdig ist aber eine Stelle, welche das
Gesetz des Kampfes um's Dasein schon neunzehn Jahrhunderte vor Darwin
ausgesprochen hat (V, 852—858, 869 fg. und 871—874):


Viele Geschlechter der lebenden Wesen
Müssen schon damals erloschen sein,
Unfähig, ihres Daseins Kette
Lcbenzeugcnd weiter zu ziehn.
Denn alle, welche du Lebenslüste
Athmen siehst, alle hat
List oder Kraft oder flüchtige Schnelle
Vom ersten Anfang schützend bewahrt.
Auch giebt es manche, die deshalb dauern,
Weil ihre Nützlichkeit uns sie empfahlen. —
Die aber, denen Natur von diesen
Gaben keine verliehen hatte, —
Diese wurden, das magst du wissen,
Andern ein Raub, eine wehrlose Beute,
Bon ihres Verhängnisses unzerreißbar',»
Netz umgarnt allzumal.

In Farben voll Lebenswahrheit glänzt das berühmte Gemälde, welches
der Dichter von der ersten Jugend des Menschengeschlechts entworfen hat
(V, 922 ff.). Wie die neuere Wissenschaft,-') so lehrt auch er, die Menschheit
habe sich erst allmählich aus dem Zustande thierischer Rohheit und Wildheit
herausgearbeitet. Die einzelnen Stufen, auf welchen Lucrez unser Geschlecht
emporsteigen läßt, sind freilich mehr ausgedacht, als auf Grund von Forsch¬
ungen festgestellt, aber auch so stimmen sie großentheils mit den Ergebnissen
der jüngsten der Wissenschaften überein. Ein Steinzeitalter kennt der Römer
uicht, sondern auf das Knittelalter, wenn wir es so nach der Hauptwaffe
nennen dürfen, folgt das des Erzes und auf dieses das des Eisengebrauches.
Die Sprache hat für Lucrez wie für die moderne Wissenschaft einen natürlichen
Ursprung. Auch die Thiere haben ja zum Theil eine, zwar wenig umfangreiche,
aber charakteristische Sprache. Die Menschensprache hat sich deshalb so weit
über die Aehnlichkeit mit der Thiersprache hinaus entwickelt, weil der Mensch
von allen Geschöpfen am höchsten begabt ist.

Ich hätte leicht die Zahl der .-.Vorahnungen" beträchtlich vermehren
können, wenn ich jede leichte Berührung mit Anschauungen der heutigen Wissen-



Vgl. Peschel, Völkerkunde p, 137 ff.
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[0423] der Welt, den Ursprung der auf der Erde lebenden Geschöpfe und die vorge¬ schichtliche Entwickelung des Menschengeschlechtes zum Gegenstande hat, einige mehr oder minder helle Lichtblicke dar. So kann man in dem Atomenchaos, welches der Gestaltung der Welt vorangeht, eine gewisse rohe Aehnlichkeit mit dem Gasball finden, aus welchem die Keine-Laplace'sche Hypothese das Sonnen¬ system entstehen läßt. Vor allem merkwürdig ist aber eine Stelle, welche das Gesetz des Kampfes um's Dasein schon neunzehn Jahrhunderte vor Darwin ausgesprochen hat (V, 852—858, 869 fg. und 871—874): Viele Geschlechter der lebenden Wesen Müssen schon damals erloschen sein, Unfähig, ihres Daseins Kette Lcbenzeugcnd weiter zu ziehn. Denn alle, welche du Lebenslüste Athmen siehst, alle hat List oder Kraft oder flüchtige Schnelle Vom ersten Anfang schützend bewahrt. Auch giebt es manche, die deshalb dauern, Weil ihre Nützlichkeit uns sie empfahlen. — Die aber, denen Natur von diesen Gaben keine verliehen hatte, — Diese wurden, das magst du wissen, Andern ein Raub, eine wehrlose Beute, Bon ihres Verhängnisses unzerreißbar',» Netz umgarnt allzumal. In Farben voll Lebenswahrheit glänzt das berühmte Gemälde, welches der Dichter von der ersten Jugend des Menschengeschlechts entworfen hat (V, 922 ff.). Wie die neuere Wissenschaft,-') so lehrt auch er, die Menschheit habe sich erst allmählich aus dem Zustande thierischer Rohheit und Wildheit herausgearbeitet. Die einzelnen Stufen, auf welchen Lucrez unser Geschlecht emporsteigen läßt, sind freilich mehr ausgedacht, als auf Grund von Forsch¬ ungen festgestellt, aber auch so stimmen sie großentheils mit den Ergebnissen der jüngsten der Wissenschaften überein. Ein Steinzeitalter kennt der Römer uicht, sondern auf das Knittelalter, wenn wir es so nach der Hauptwaffe nennen dürfen, folgt das des Erzes und auf dieses das des Eisengebrauches. Die Sprache hat für Lucrez wie für die moderne Wissenschaft einen natürlichen Ursprung. Auch die Thiere haben ja zum Theil eine, zwar wenig umfangreiche, aber charakteristische Sprache. Die Menschensprache hat sich deshalb so weit über die Aehnlichkeit mit der Thiersprache hinaus entwickelt, weil der Mensch von allen Geschöpfen am höchsten begabt ist. Ich hätte leicht die Zahl der .-.Vorahnungen" beträchtlich vermehren können, wenn ich jede leichte Berührung mit Anschauungen der heutigen Wissen- Vgl. Peschel, Völkerkunde p, 137 ff.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157661/423>, abgerufen am 25.08.2024.