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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band.

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umgebenen Atome des wägbaren Stoffes schwanken immerfort um ein Zentrum,
eine Ruhelage herum. Erreichten sie diese und beharrten in ihr, so wäre der
absolute Nullpunkt der Temperatur eingetreten. Von dem ursächlichen Ver¬
hältniß, in welchem die Atvmenbewegnng zur Temperatur steht, ahnt Lucrez
natürlich nichts, aber auch so erscheint die Vorwegnähme der Wahrheit, daß
sich die Urkörper auch in den festesten Dingen ewig bewegen, eine Anschauung,
welche so ganz "gegen die Evidenz der Sinneswahrnehmung" geht, als eine
glänzende Geistesthat der antiken Atomistik.

Die Schnelligkeit der Atomenbewegungen ist eine außerordentlich große.
Wenn schon das Licht der Sonne, dessen Flug doch durch die Luft gehemmt
wird, im Momente des Aufganges alles überströmt und in Schimmer kleidet,
wie schnell müssen sich dann die Atome bewegen, welche sich im leeren Raume
tummeln? (II, 142--164). Ein englischer Gelehrter, Professor Jenkin, meint
in seinem Aufsatz: ^toiiiiv Msarig ok I/uoretius" ^orni Lritisd L-Kvisv,
Vol. XIuVIII), Lucrez würde sich freuen, wenn er erführe, daß Herayath,
Joule, Kröning, Clausius und Clerk-Maxwell im Stande gewesen, die Ge¬
schwindigkeit der Atomeubewegnng zu messen.*) Ich fürchte, dies würde dem
Epikureer ziemlich gleichgiltig gewesen sein.

Möglich ist eine ewige Bewegung der Materie nur unter der Voraus¬
setzung der Unendlichkeit des Raumes. Deshalb hat Lucrez den Beweis
für diese wie für die der Materie vorangeschickt. Der Raum und die in ihm
befindliche Materie bilden zusammen das All. Dies muß nothwendig unbe¬
grenzt sein: Das folgt schon aus seinem Begriff, denn was irgend als das
All begrenzend gesetzt werden könnte, das gehörte ja durch seine bloße Existenz
mit zur All. Es folgt nnn ein so zu sagen in Szene gesetzter Beweis, welcher
an Schiller's "Größe der Welt" erinnert (I, 968--981):


Ich laß' es gelten: es soll einmal
Des Raumes ganze Weite begrenzt sein.
Wohlan! Zu des Raumes äußerstem Rande
Stürmt ein Mensch einsam hinaus
Und er schlendert von dort ein beschwingtes Geschoß.
Soll dieses, entsandt mit gewaltiger Kraft,
Weit fliegen die Bahn und gelangen ein's Ziel,
Oder -- soll irgend etwas
Hintern und hemmen der Lanze Flug?
Denn eines von beiden mußt du gestehn,
Wr eines von beiden durchaus dich entscheiden.
Beides verschließt dir jeden Ausweg,
Zwingt das Gestandniß dir ab, daß das All
Ohne Grenzen sich endlos breite.

*) 18S9 Meter in der Sekunde für Wasserstoff, 466 für Sauerstoff u. s. w.

umgebenen Atome des wägbaren Stoffes schwanken immerfort um ein Zentrum,
eine Ruhelage herum. Erreichten sie diese und beharrten in ihr, so wäre der
absolute Nullpunkt der Temperatur eingetreten. Von dem ursächlichen Ver¬
hältniß, in welchem die Atvmenbewegnng zur Temperatur steht, ahnt Lucrez
natürlich nichts, aber auch so erscheint die Vorwegnähme der Wahrheit, daß
sich die Urkörper auch in den festesten Dingen ewig bewegen, eine Anschauung,
welche so ganz „gegen die Evidenz der Sinneswahrnehmung" geht, als eine
glänzende Geistesthat der antiken Atomistik.

Die Schnelligkeit der Atomenbewegungen ist eine außerordentlich große.
Wenn schon das Licht der Sonne, dessen Flug doch durch die Luft gehemmt
wird, im Momente des Aufganges alles überströmt und in Schimmer kleidet,
wie schnell müssen sich dann die Atome bewegen, welche sich im leeren Raume
tummeln? (II, 142—164). Ein englischer Gelehrter, Professor Jenkin, meint
in seinem Aufsatz: ^toiiiiv Msarig ok I/uoretius" ^orni Lritisd L-Kvisv,
Vol. XIuVIII), Lucrez würde sich freuen, wenn er erführe, daß Herayath,
Joule, Kröning, Clausius und Clerk-Maxwell im Stande gewesen, die Ge¬
schwindigkeit der Atomeubewegnng zu messen.*) Ich fürchte, dies würde dem
Epikureer ziemlich gleichgiltig gewesen sein.

Möglich ist eine ewige Bewegung der Materie nur unter der Voraus¬
setzung der Unendlichkeit des Raumes. Deshalb hat Lucrez den Beweis
für diese wie für die der Materie vorangeschickt. Der Raum und die in ihm
befindliche Materie bilden zusammen das All. Dies muß nothwendig unbe¬
grenzt sein: Das folgt schon aus seinem Begriff, denn was irgend als das
All begrenzend gesetzt werden könnte, das gehörte ja durch seine bloße Existenz
mit zur All. Es folgt nnn ein so zu sagen in Szene gesetzter Beweis, welcher
an Schiller's „Größe der Welt" erinnert (I, 968—981):


Ich laß' es gelten: es soll einmal
Des Raumes ganze Weite begrenzt sein.
Wohlan! Zu des Raumes äußerstem Rande
Stürmt ein Mensch einsam hinaus
Und er schlendert von dort ein beschwingtes Geschoß.
Soll dieses, entsandt mit gewaltiger Kraft,
Weit fliegen die Bahn und gelangen ein's Ziel,
Oder — soll irgend etwas
Hintern und hemmen der Lanze Flug?
Denn eines von beiden mußt du gestehn,
Wr eines von beiden durchaus dich entscheiden.
Beides verschließt dir jeden Ausweg,
Zwingt das Gestandniß dir ab, daß das All
Ohne Grenzen sich endlos breite.

*) 18S9 Meter in der Sekunde für Wasserstoff, 466 für Sauerstoff u. s. w.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157661/421>, abgerufen am 03.07.2024.