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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band.

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grenzenlosen Raum; da aber dieser Raum, von ihnen abgesehen, völlig leer ist, so
müssen große und kleine Urkörper gleich schnell fallen und können sich also nie
berühren. Ju dieser Verlegenheit greift Epikur zu einem verzweifelten Hilfs¬
mittel, das ihm Hohn und Spott in Fülle eingebracht hat: er erfindet die Dekli¬
nation der Atome. Zu unbestimmten Zeitpunkten weichen die fallenden Körper¬
chen um ein Minimum von der senkrechten ab: dadurch, und nur dadurch
werden Zusammenstöße möglich. Solange nun diese Zusammenstöße nicht zu
Vereinigungen führen, bieten die Atome dem Geistesauge das Schallspiel eines
wunderbaren Reigens dar, welchen der Dichter durch das Gemälde des Tanzes der
Sonnenstäubchen meisterhaft versinnlicht (II, 109--131). Unter günstigen Ver¬
hältnissen aber vereinigen sich die Atome und bilden Stoffe, von welchen der
Dichter zwei Hauptarten unterscheidet (II, 97--108):


Die einen von den Atomen springen,
In ruheloser und mannigfaltgcr
Bewegung sich tunuuelud, sobald sich zwei
Zusmnmenswßend berührt, im Moment
Weit anseinander sunt wieder zurückj,
Andere werden in kleinerem Abstand
Hin und her bon den Stoße" geworfen.
Und die nun, welche, in dichterem Schwarm,
In winzigem Abstand znsnnunenfahren
Und zurückspringen in winzigen Abstand,
Weil sie sich fest in einander verfangen
Mit den Hakon und Aesten ihrer Figuren,
Die bilden des Felsens festes Gefüge,
Bilden des Eisens wilde Gewalt
Und alles, was sonst von solchen Stoffen,
Nicht allzuzahlreich, vorhanden ist.
Die andern, die dnrch den unendlichen Raum
jMit glatten und rundlichen Körpern begabt>
Sich tummeln, springen weit auseinander
lind konunen dann ans weitem Abstand
Wieder zusammen: sie bilden die Luft
So wie der Sonne strahlendes Licht.

Also auch in den Dingen selbst kommen die Urkörper keinen Augenblick zur
Ruhe. Unserm Gesicht entzieht sich natürlich diese Bewegung, da sich die
Atome selbst ihm entziehen (II, 308-314), aber der Geist schallt es in Klar¬
heit, wie selbst die Urkörper des Eisens und des Diamanten, im allgegen¬
wärtigen Leeren schwebend, im engen Spielraum rastlos hin und zurückfahren.
Sehen wir von den thöricht erfundenen Aestchen und Häkchen und Oeschen
ab, so lehrt die neueste Physik dasselbe. Aber für sie freilich hat die Bewegung
der Moleküle und Atome in den Stoffen, wie eine andere Ursache, so anch
eine andere Bedeutung. Sie ruft die Erscheinungen hervor, mit welchen sich
die Lehre von der Wärme beschäftigt. Die von einem Kranz von Aetheratomen


grenzenlosen Raum; da aber dieser Raum, von ihnen abgesehen, völlig leer ist, so
müssen große und kleine Urkörper gleich schnell fallen und können sich also nie
berühren. Ju dieser Verlegenheit greift Epikur zu einem verzweifelten Hilfs¬
mittel, das ihm Hohn und Spott in Fülle eingebracht hat: er erfindet die Dekli¬
nation der Atome. Zu unbestimmten Zeitpunkten weichen die fallenden Körper¬
chen um ein Minimum von der senkrechten ab: dadurch, und nur dadurch
werden Zusammenstöße möglich. Solange nun diese Zusammenstöße nicht zu
Vereinigungen führen, bieten die Atome dem Geistesauge das Schallspiel eines
wunderbaren Reigens dar, welchen der Dichter durch das Gemälde des Tanzes der
Sonnenstäubchen meisterhaft versinnlicht (II, 109—131). Unter günstigen Ver¬
hältnissen aber vereinigen sich die Atome und bilden Stoffe, von welchen der
Dichter zwei Hauptarten unterscheidet (II, 97—108):


Die einen von den Atomen springen,
In ruheloser und mannigfaltgcr
Bewegung sich tunuuelud, sobald sich zwei
Zusmnmenswßend berührt, im Moment
Weit anseinander sunt wieder zurückj,
Andere werden in kleinerem Abstand
Hin und her bon den Stoße» geworfen.
Und die nun, welche, in dichterem Schwarm,
In winzigem Abstand znsnnunenfahren
Und zurückspringen in winzigen Abstand,
Weil sie sich fest in einander verfangen
Mit den Hakon und Aesten ihrer Figuren,
Die bilden des Felsens festes Gefüge,
Bilden des Eisens wilde Gewalt
Und alles, was sonst von solchen Stoffen,
Nicht allzuzahlreich, vorhanden ist.
Die andern, die dnrch den unendlichen Raum
jMit glatten und rundlichen Körpern begabt>
Sich tummeln, springen weit auseinander
lind konunen dann ans weitem Abstand
Wieder zusammen: sie bilden die Luft
So wie der Sonne strahlendes Licht.

Also auch in den Dingen selbst kommen die Urkörper keinen Augenblick zur
Ruhe. Unserm Gesicht entzieht sich natürlich diese Bewegung, da sich die
Atome selbst ihm entziehen (II, 308-314), aber der Geist schallt es in Klar¬
heit, wie selbst die Urkörper des Eisens und des Diamanten, im allgegen¬
wärtigen Leeren schwebend, im engen Spielraum rastlos hin und zurückfahren.
Sehen wir von den thöricht erfundenen Aestchen und Häkchen und Oeschen
ab, so lehrt die neueste Physik dasselbe. Aber für sie freilich hat die Bewegung
der Moleküle und Atome in den Stoffen, wie eine andere Ursache, so anch
eine andere Bedeutung. Sie ruft die Erscheinungen hervor, mit welchen sich
die Lehre von der Wärme beschäftigt. Die von einem Kranz von Aetheratomen


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[0420] grenzenlosen Raum; da aber dieser Raum, von ihnen abgesehen, völlig leer ist, so müssen große und kleine Urkörper gleich schnell fallen und können sich also nie berühren. Ju dieser Verlegenheit greift Epikur zu einem verzweifelten Hilfs¬ mittel, das ihm Hohn und Spott in Fülle eingebracht hat: er erfindet die Dekli¬ nation der Atome. Zu unbestimmten Zeitpunkten weichen die fallenden Körper¬ chen um ein Minimum von der senkrechten ab: dadurch, und nur dadurch werden Zusammenstöße möglich. Solange nun diese Zusammenstöße nicht zu Vereinigungen führen, bieten die Atome dem Geistesauge das Schallspiel eines wunderbaren Reigens dar, welchen der Dichter durch das Gemälde des Tanzes der Sonnenstäubchen meisterhaft versinnlicht (II, 109—131). Unter günstigen Ver¬ hältnissen aber vereinigen sich die Atome und bilden Stoffe, von welchen der Dichter zwei Hauptarten unterscheidet (II, 97—108): Die einen von den Atomen springen, In ruheloser und mannigfaltgcr Bewegung sich tunuuelud, sobald sich zwei Zusmnmenswßend berührt, im Moment Weit anseinander sunt wieder zurückj, Andere werden in kleinerem Abstand Hin und her bon den Stoße» geworfen. Und die nun, welche, in dichterem Schwarm, In winzigem Abstand znsnnunenfahren Und zurückspringen in winzigen Abstand, Weil sie sich fest in einander verfangen Mit den Hakon und Aesten ihrer Figuren, Die bilden des Felsens festes Gefüge, Bilden des Eisens wilde Gewalt Und alles, was sonst von solchen Stoffen, Nicht allzuzahlreich, vorhanden ist. Die andern, die dnrch den unendlichen Raum jMit glatten und rundlichen Körpern begabt> Sich tummeln, springen weit auseinander lind konunen dann ans weitem Abstand Wieder zusammen: sie bilden die Luft So wie der Sonne strahlendes Licht. Also auch in den Dingen selbst kommen die Urkörper keinen Augenblick zur Ruhe. Unserm Gesicht entzieht sich natürlich diese Bewegung, da sich die Atome selbst ihm entziehen (II, 308-314), aber der Geist schallt es in Klar¬ heit, wie selbst die Urkörper des Eisens und des Diamanten, im allgegen¬ wärtigen Leeren schwebend, im engen Spielraum rastlos hin und zurückfahren. Sehen wir von den thöricht erfundenen Aestchen und Häkchen und Oeschen ab, so lehrt die neueste Physik dasselbe. Aber für sie freilich hat die Bewegung der Moleküle und Atome in den Stoffen, wie eine andere Ursache, so anch eine andere Bedeutung. Sie ruft die Erscheinungen hervor, mit welchen sich die Lehre von der Wärme beschäftigt. Die von einem Kranz von Aetheratomen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157661/420>, abgerufen am 01.07.2024.