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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band.

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von den Liedern Schubert's, Mendelssohn's, Schumann's oder selbst vom deut¬
schen Volksliede hinweg zum ersten Male an diese altenglischen Lieder heran¬
tritt, der fühlt, daß ihm hier eine völlig fremde Atmosphäre entgegenweht. Wer
in seinem Leben von Architekturwerkeu nie etwas anderes als Renaissancebauten
gesehen hätte und nun zum ersten Male vor eine gothische Kirche träte oder
wer nur Gemälde von Rafael und Tizian kennte und nun zum ersten Male
Holzschnitte von Dürer oder Kupferstiche der deutschen Kleinmeister sähe, dein
würde etwa ähnlich zu Muthe sein. Es bedarf längerer Zeit, um mit dem an¬
fangs Fremdartigen sich vertraut zu machen und sich in die Eigenthümlich¬
keiten der Lieder einzuleben; dann aber wird uns ihre Kunstweise bald als
eine in ihrer Art durchaus gesetzmäßige, schöne und charaktervolle erscheinen.

Namentlich die schottischen und irischen Lieder entfernen sich weit von allen
Begriffen, die wir Modernen von Rhythmik, Melodienführung und Modulation
haben. Im Rhythmus befremden uns z. B. die oft wiederkehrenden Vorhalte
auf den: betonten Takttheile, die ungefähr ähnlich wirken, als wenn jemand
plötzlich von uns verlangen wollte, daß wir in iambisch gebildeten Worten
wie "genug", "allein", "Gesang" die erste kurze Silbe betonen sollten.
Während ferner im deutschen Volksliede in der Melodie fast überall zugleich
die Harmonie so offen zu Tage liegt, daß jedes einigermaßen über die Modu¬
lationen der Ziehharmonika erhabene Gemüth sie deutlich und bestimmt heraus¬
zuhören meint, würde man den englischen Volksliedern gegenüber, wenn man
sie ohne Klavierbegleitung hörte, oft in großer Verlegenheit sein, wie man sie sich
harmonisirt denken soll. Man würde auf die eine, würde auf die andre Mög¬
lichkeit verfallen und doch vielleicht von keiner recht befriedigt sein. Es hängt
dies damit zusammen, daß vielen namentlich der irischen und schottischen Volks¬
weisen nicht unsere heutige diatonische Skala (o, ä, s, k, ^, a, b., o), sondern
entweder die alten sogen, ambrosicmischen Tonarten -- der Herausgeber redet
von einer "Tonleiter des ambrosianischen Kirchengesanges"; aber was soll man
sich darunter denken? -- oder aber die fünftönige, der halben Töne beraubte,
also quart- und septimenlose Skala, die auch in der orientalischen Musik oft
begegnet, zu Grunde liegt. Daher der häufige Ausfall des Leitetous, der
unser Ohr anfangs unangenehm frappirt, daher die häufigen Abschlüsse der
Melodie in der Dominante oder gar in der Sekunde. Die irischen und die
Mischen, im schottischen Hochlande heimischen Weisen beruhen fast durchweg
auf diesem fttnftönigen System, die ans dem Tieflande folgen dem Prinzip des
ambrosianischen Kirchengesanges. Nur eine kleine Anzahl verräth den Einfluß
moderner Harmoniegesetze. Verhältnißmäßig das Wenigste von jenen alter¬
tümlichen, uns hart erscheinenden Modulationen bieten die walisischen Weisen;
sie nähern sich am meisten dem heutigen Tonsystem, ja einzelnes darin klingt


von den Liedern Schubert's, Mendelssohn's, Schumann's oder selbst vom deut¬
schen Volksliede hinweg zum ersten Male an diese altenglischen Lieder heran¬
tritt, der fühlt, daß ihm hier eine völlig fremde Atmosphäre entgegenweht. Wer
in seinem Leben von Architekturwerkeu nie etwas anderes als Renaissancebauten
gesehen hätte und nun zum ersten Male vor eine gothische Kirche träte oder
wer nur Gemälde von Rafael und Tizian kennte und nun zum ersten Male
Holzschnitte von Dürer oder Kupferstiche der deutschen Kleinmeister sähe, dein
würde etwa ähnlich zu Muthe sein. Es bedarf längerer Zeit, um mit dem an¬
fangs Fremdartigen sich vertraut zu machen und sich in die Eigenthümlich¬
keiten der Lieder einzuleben; dann aber wird uns ihre Kunstweise bald als
eine in ihrer Art durchaus gesetzmäßige, schöne und charaktervolle erscheinen.

Namentlich die schottischen und irischen Lieder entfernen sich weit von allen
Begriffen, die wir Modernen von Rhythmik, Melodienführung und Modulation
haben. Im Rhythmus befremden uns z. B. die oft wiederkehrenden Vorhalte
auf den: betonten Takttheile, die ungefähr ähnlich wirken, als wenn jemand
plötzlich von uns verlangen wollte, daß wir in iambisch gebildeten Worten
wie „genug", „allein", „Gesang" die erste kurze Silbe betonen sollten.
Während ferner im deutschen Volksliede in der Melodie fast überall zugleich
die Harmonie so offen zu Tage liegt, daß jedes einigermaßen über die Modu¬
lationen der Ziehharmonika erhabene Gemüth sie deutlich und bestimmt heraus¬
zuhören meint, würde man den englischen Volksliedern gegenüber, wenn man
sie ohne Klavierbegleitung hörte, oft in großer Verlegenheit sein, wie man sie sich
harmonisirt denken soll. Man würde auf die eine, würde auf die andre Mög¬
lichkeit verfallen und doch vielleicht von keiner recht befriedigt sein. Es hängt
dies damit zusammen, daß vielen namentlich der irischen und schottischen Volks¬
weisen nicht unsere heutige diatonische Skala (o, ä, s, k, ^, a, b., o), sondern
entweder die alten sogen, ambrosicmischen Tonarten — der Herausgeber redet
von einer „Tonleiter des ambrosianischen Kirchengesanges"; aber was soll man
sich darunter denken? — oder aber die fünftönige, der halben Töne beraubte,
also quart- und septimenlose Skala, die auch in der orientalischen Musik oft
begegnet, zu Grunde liegt. Daher der häufige Ausfall des Leitetous, der
unser Ohr anfangs unangenehm frappirt, daher die häufigen Abschlüsse der
Melodie in der Dominante oder gar in der Sekunde. Die irischen und die
Mischen, im schottischen Hochlande heimischen Weisen beruhen fast durchweg
auf diesem fttnftönigen System, die ans dem Tieflande folgen dem Prinzip des
ambrosianischen Kirchengesanges. Nur eine kleine Anzahl verräth den Einfluß
moderner Harmoniegesetze. Verhältnißmäßig das Wenigste von jenen alter¬
tümlichen, uns hart erscheinenden Modulationen bieten die walisischen Weisen;
sie nähern sich am meisten dem heutigen Tonsystem, ja einzelnes darin klingt


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[0396] von den Liedern Schubert's, Mendelssohn's, Schumann's oder selbst vom deut¬ schen Volksliede hinweg zum ersten Male an diese altenglischen Lieder heran¬ tritt, der fühlt, daß ihm hier eine völlig fremde Atmosphäre entgegenweht. Wer in seinem Leben von Architekturwerkeu nie etwas anderes als Renaissancebauten gesehen hätte und nun zum ersten Male vor eine gothische Kirche träte oder wer nur Gemälde von Rafael und Tizian kennte und nun zum ersten Male Holzschnitte von Dürer oder Kupferstiche der deutschen Kleinmeister sähe, dein würde etwa ähnlich zu Muthe sein. Es bedarf längerer Zeit, um mit dem an¬ fangs Fremdartigen sich vertraut zu machen und sich in die Eigenthümlich¬ keiten der Lieder einzuleben; dann aber wird uns ihre Kunstweise bald als eine in ihrer Art durchaus gesetzmäßige, schöne und charaktervolle erscheinen. Namentlich die schottischen und irischen Lieder entfernen sich weit von allen Begriffen, die wir Modernen von Rhythmik, Melodienführung und Modulation haben. Im Rhythmus befremden uns z. B. die oft wiederkehrenden Vorhalte auf den: betonten Takttheile, die ungefähr ähnlich wirken, als wenn jemand plötzlich von uns verlangen wollte, daß wir in iambisch gebildeten Worten wie „genug", „allein", „Gesang" die erste kurze Silbe betonen sollten. Während ferner im deutschen Volksliede in der Melodie fast überall zugleich die Harmonie so offen zu Tage liegt, daß jedes einigermaßen über die Modu¬ lationen der Ziehharmonika erhabene Gemüth sie deutlich und bestimmt heraus¬ zuhören meint, würde man den englischen Volksliedern gegenüber, wenn man sie ohne Klavierbegleitung hörte, oft in großer Verlegenheit sein, wie man sie sich harmonisirt denken soll. Man würde auf die eine, würde auf die andre Mög¬ lichkeit verfallen und doch vielleicht von keiner recht befriedigt sein. Es hängt dies damit zusammen, daß vielen namentlich der irischen und schottischen Volks¬ weisen nicht unsere heutige diatonische Skala (o, ä, s, k, ^, a, b., o), sondern entweder die alten sogen, ambrosicmischen Tonarten — der Herausgeber redet von einer „Tonleiter des ambrosianischen Kirchengesanges"; aber was soll man sich darunter denken? — oder aber die fünftönige, der halben Töne beraubte, also quart- und septimenlose Skala, die auch in der orientalischen Musik oft begegnet, zu Grunde liegt. Daher der häufige Ausfall des Leitetous, der unser Ohr anfangs unangenehm frappirt, daher die häufigen Abschlüsse der Melodie in der Dominante oder gar in der Sekunde. Die irischen und die Mischen, im schottischen Hochlande heimischen Weisen beruhen fast durchweg auf diesem fttnftönigen System, die ans dem Tieflande folgen dem Prinzip des ambrosianischen Kirchengesanges. Nur eine kleine Anzahl verräth den Einfluß moderner Harmoniegesetze. Verhältnißmäßig das Wenigste von jenen alter¬ tümlichen, uns hart erscheinenden Modulationen bieten die walisischen Weisen; sie nähern sich am meisten dem heutigen Tonsystem, ja einzelnes darin klingt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157661/396>, abgerufen am 22.07.2024.