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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band.

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ganz modern und erinnert direkt an bekannte deutsche Volksmelodien. Ans
dem einen der walisischen Lieder glaubt man z. B. die Melodie: "Es zogen
drei Burschen wohl über den Rhein", aus einem andern: "Muß i denn, muß
i denn zum Städtle hinaus" mit geringen Abweichungen herauszuhören.

Trotz dieser seltsamen und anfangs überraschenden Eigenthümlichkeiten
liegt aber doch in diesen Liedern ein Schatz, und leider ein ziemlich unbekannter
Schatz reicher musikalischer Schönheit. Studium gehört dazu, anch mit den
Melodien sich zu befreunden; auch die musikalische Seite der Lieder erfordert
dasselbe, wenn man will, gelehrte, wissenschaftliche Interesse wie die Texte.
Aber hier ist doch nichts, was man geradezu ausgeschieden zu sehen wünschte,
nirgends eine unüberbrückbare Kluft zu Dingen, für die es uus absolut an
Sinn und Verständniß gebräche, wie es bei den Texten unleugbar vielfach der
Fall ist. Die Musik ist und bleibt in diesen Liedern die Hauptsache. Um der
Musik willen haben große englische Dichter es nicht verschmäht, neue Texte
dazu zu schreiben, um der Musik willen soll der Versuch gemacht werden, sie
auch in Deutschland einzubürgern, um der Musik willen wird man gern anch
die Texte mit ihren Wunderlichkeiten und trotz ihrer oft ungenügenden Ueber-
setzung mit in Kauf nehmen.

Von der Stimmung oder vielmehr der Mannichfaltigkeit der Stimmungen,
die in diesen Liedern herrscht, eine Vorstellung zu geben, ist hier unmöglich.
Musik in diesem Sinne läßt sich nicht beschreiben. Als Thomas Moore sein
"Irisn Usloäiss" herausgab, schrieb er im Vorwort: "Das irische Lied ist der
treueste Kommentar zur irischen Geschichte. Kühner Trotz, dem Entmuthigung
folgt, stürmisches Aufwallen, das in Weichheit hinstirbt, Trauer des einen
Augenblicks, versenkt im Leichtsinn des nächsten, jene flnktuirende Stimmung
und Mischung von Laune und Trübsinn, wie sie einem leichterregten Gemüth
eigen, welches sein Ungemach abschütteln oder vergessen möchte -- das sind
die Züge der irischen Geschichte, des irischen Naturells, und getreu spiegeln sie
sich wieder in der irischen Musik. Selbst in die fröhlichsten Weisen klingt ein
klagender Molitor -- irgend eine verminderte Septime oder Terz --, der im
Vorübergleiten seinen Schatten wirft und anch den Jubel rührend macht."
Aehnliches gilt von allen diesen Liedern. Die Anzahl derer, in denen eine
weiche, wehmüthige Stimmung vorherrscht, in denen Klagen ertönen um ver¬
lorene Liebe, um den Verlust der Heimat, um Einsamkeit und Verlassenheit,
bilden ohnehin die Mehrzahl; aber selbst über heiter ausgelassenen Weisen, über
solchen, aus denen eine neckische Schelmerei spricht, und selbst über den kraft-
und schwungvollen, einen kriegerischen Geist athmenden, historisch-patriotischen
Liedern liegt etwas wie ein elegischer Flor ausgebreitet. Welche naive An¬
muth aber, welche innige Empfindung, welche Süßigkeit sie athmen können,


ganz modern und erinnert direkt an bekannte deutsche Volksmelodien. Ans
dem einen der walisischen Lieder glaubt man z. B. die Melodie: „Es zogen
drei Burschen wohl über den Rhein", aus einem andern: „Muß i denn, muß
i denn zum Städtle hinaus" mit geringen Abweichungen herauszuhören.

Trotz dieser seltsamen und anfangs überraschenden Eigenthümlichkeiten
liegt aber doch in diesen Liedern ein Schatz, und leider ein ziemlich unbekannter
Schatz reicher musikalischer Schönheit. Studium gehört dazu, anch mit den
Melodien sich zu befreunden; auch die musikalische Seite der Lieder erfordert
dasselbe, wenn man will, gelehrte, wissenschaftliche Interesse wie die Texte.
Aber hier ist doch nichts, was man geradezu ausgeschieden zu sehen wünschte,
nirgends eine unüberbrückbare Kluft zu Dingen, für die es uus absolut an
Sinn und Verständniß gebräche, wie es bei den Texten unleugbar vielfach der
Fall ist. Die Musik ist und bleibt in diesen Liedern die Hauptsache. Um der
Musik willen haben große englische Dichter es nicht verschmäht, neue Texte
dazu zu schreiben, um der Musik willen soll der Versuch gemacht werden, sie
auch in Deutschland einzubürgern, um der Musik willen wird man gern anch
die Texte mit ihren Wunderlichkeiten und trotz ihrer oft ungenügenden Ueber-
setzung mit in Kauf nehmen.

Von der Stimmung oder vielmehr der Mannichfaltigkeit der Stimmungen,
die in diesen Liedern herrscht, eine Vorstellung zu geben, ist hier unmöglich.
Musik in diesem Sinne läßt sich nicht beschreiben. Als Thomas Moore sein
„Irisn Usloäiss" herausgab, schrieb er im Vorwort: „Das irische Lied ist der
treueste Kommentar zur irischen Geschichte. Kühner Trotz, dem Entmuthigung
folgt, stürmisches Aufwallen, das in Weichheit hinstirbt, Trauer des einen
Augenblicks, versenkt im Leichtsinn des nächsten, jene flnktuirende Stimmung
und Mischung von Laune und Trübsinn, wie sie einem leichterregten Gemüth
eigen, welches sein Ungemach abschütteln oder vergessen möchte — das sind
die Züge der irischen Geschichte, des irischen Naturells, und getreu spiegeln sie
sich wieder in der irischen Musik. Selbst in die fröhlichsten Weisen klingt ein
klagender Molitor — irgend eine verminderte Septime oder Terz —, der im
Vorübergleiten seinen Schatten wirft und anch den Jubel rührend macht."
Aehnliches gilt von allen diesen Liedern. Die Anzahl derer, in denen eine
weiche, wehmüthige Stimmung vorherrscht, in denen Klagen ertönen um ver¬
lorene Liebe, um den Verlust der Heimat, um Einsamkeit und Verlassenheit,
bilden ohnehin die Mehrzahl; aber selbst über heiter ausgelassenen Weisen, über
solchen, aus denen eine neckische Schelmerei spricht, und selbst über den kraft-
und schwungvollen, einen kriegerischen Geist athmenden, historisch-patriotischen
Liedern liegt etwas wie ein elegischer Flor ausgebreitet. Welche naive An¬
muth aber, welche innige Empfindung, welche Süßigkeit sie athmen können,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157661/397>, abgerufen am 22.07.2024.