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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band.

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Immer aber, mochte er um Neues schaffen oder das Vorhandene nur undichten,
ging er mit echt poetischem Feingefühl, mit einer wunderbaren Kunst der An-
empfindung und vor allem mit der größten künstlerischen Gewissenhaftigkeit zu
Werke. Sagte ihm eine Melodie nicht zu, dann erklärte er offen, nicht darnach
dichten zu köunen. Ganz unberührt blieb keiner der alten Texte. "Wenige,
sagt Walter Scott, kamen aus seinen Händen, ohne einige jener magischen
Pinselstriche erhalten zu haben, die, ohne das Lied wesentlich zu ändern, ihnen
den ursprünglichen Geist wiedergaben oder mehr verliehen, als es vorher be¬
sessen hatte." Es ist das Gleiche, was man an Goethe gerühmt hat, wenn
man sagte, daß er das "Haidenröslein" in der Fassung, die er ihm verliehen,
gleichsam "zu seinem Ideal znrückgedichtet habe."

Was Burns sür die schottischen Volksmelodien in seinen "Liedern und
Balladen" geleistet, leistete elf Jahre uach Burns Tode, 1807, Thomas Moore,
der "irische Burns", wie man ihn deshalb genannt hat, für die irischen in seinen
nicht minder berühmt gewordenen "Irisll Nslocllss", nachdem allerdings vor¬
her schon Ausgaben altirischcr Lieder von O'Brien und Molloy erschienen
waren. Für die walisischen Volkslieder übernahm die bekannte englische Dichterin
Felicia Heinans die gleiche Aufgabe in einer Sammlung von "'Uslell msloäios",
die Parry um dieselbe Zeit veranstaltete, nur daß sie ihre Dichtungen nicht
völlig frei erfand, sondern ihnen meist den Inhalt wirklich vorhandener alter
khmrischer Lieder zu Grunde legte. Endlich hat auch Walter Scott bei einer
großen Anzahl seiner "Lieder und Balladen" alte, namentlich auch walisische
Volksweisen im Ange gehabt und jene mit direktem Bezug auf sie gedichtet.

Von allen diesen Schätzen der englischen Lhrik waren in Dentschland bis
vor wenigen Jahren die echt volksthümlichen Lieder so gut wie unbekannt, die
von Burns, Thomas Moore, Felicia Heinans und Walter Scott umgedichteten
oder neugedichteten Lieder höchstens dem Texte nach bekannt. Von Burns'
"Liedern und Balladen" haben wir mehr als eine gute deutsche Uebersetzung.
Von den Melodien aller dieser Lieder aber ist nur ganz vereinzelt die eine
oder andere nach Deutschland gedrungen und keine populär geworden. Dahin
gehören die oben erwähnten vier. Und doch bei aller Schönheit, die hinreichte,
ihnen, auch abgelöst vom musikalischen Vortrage, ihre Wirkung zu sichern, was
sind diese Texte ohne die Melodien, für die sie gedichtet sind! Der Wunsch,
die Lieder singen zu köunen, liegt so unendlich nahe, daß Burus'sche Lieder ja
in großer Anzahl von deutschen Componisten in Musik gesetzt worden sind.
Nicht für das Auge zum stillen Lesen, für das Ohr sind sie bestimmt. Burns'
Lieder vor allem sind, was sie sind, erst dann ganz, sie üben erst dann ihre
volle Wirkung aus, wenn sie verbunden sind mit den Melodieen, in deren
Interesse, in deren Dienst sie entstanden sind. Und dieser Einheit von Wort


Immer aber, mochte er um Neues schaffen oder das Vorhandene nur undichten,
ging er mit echt poetischem Feingefühl, mit einer wunderbaren Kunst der An-
empfindung und vor allem mit der größten künstlerischen Gewissenhaftigkeit zu
Werke. Sagte ihm eine Melodie nicht zu, dann erklärte er offen, nicht darnach
dichten zu köunen. Ganz unberührt blieb keiner der alten Texte. „Wenige,
sagt Walter Scott, kamen aus seinen Händen, ohne einige jener magischen
Pinselstriche erhalten zu haben, die, ohne das Lied wesentlich zu ändern, ihnen
den ursprünglichen Geist wiedergaben oder mehr verliehen, als es vorher be¬
sessen hatte." Es ist das Gleiche, was man an Goethe gerühmt hat, wenn
man sagte, daß er das „Haidenröslein" in der Fassung, die er ihm verliehen,
gleichsam „zu seinem Ideal znrückgedichtet habe."

Was Burns sür die schottischen Volksmelodien in seinen „Liedern und
Balladen" geleistet, leistete elf Jahre uach Burns Tode, 1807, Thomas Moore,
der „irische Burns", wie man ihn deshalb genannt hat, für die irischen in seinen
nicht minder berühmt gewordenen „Irisll Nslocllss", nachdem allerdings vor¬
her schon Ausgaben altirischcr Lieder von O'Brien und Molloy erschienen
waren. Für die walisischen Volkslieder übernahm die bekannte englische Dichterin
Felicia Heinans die gleiche Aufgabe in einer Sammlung von „'Uslell msloäios",
die Parry um dieselbe Zeit veranstaltete, nur daß sie ihre Dichtungen nicht
völlig frei erfand, sondern ihnen meist den Inhalt wirklich vorhandener alter
khmrischer Lieder zu Grunde legte. Endlich hat auch Walter Scott bei einer
großen Anzahl seiner „Lieder und Balladen" alte, namentlich auch walisische
Volksweisen im Ange gehabt und jene mit direktem Bezug auf sie gedichtet.

Von allen diesen Schätzen der englischen Lhrik waren in Dentschland bis
vor wenigen Jahren die echt volksthümlichen Lieder so gut wie unbekannt, die
von Burns, Thomas Moore, Felicia Heinans und Walter Scott umgedichteten
oder neugedichteten Lieder höchstens dem Texte nach bekannt. Von Burns'
„Liedern und Balladen" haben wir mehr als eine gute deutsche Uebersetzung.
Von den Melodien aller dieser Lieder aber ist nur ganz vereinzelt die eine
oder andere nach Deutschland gedrungen und keine populär geworden. Dahin
gehören die oben erwähnten vier. Und doch bei aller Schönheit, die hinreichte,
ihnen, auch abgelöst vom musikalischen Vortrage, ihre Wirkung zu sichern, was
sind diese Texte ohne die Melodien, für die sie gedichtet sind! Der Wunsch,
die Lieder singen zu köunen, liegt so unendlich nahe, daß Burus'sche Lieder ja
in großer Anzahl von deutschen Componisten in Musik gesetzt worden sind.
Nicht für das Auge zum stillen Lesen, für das Ohr sind sie bestimmt. Burns'
Lieder vor allem sind, was sie sind, erst dann ganz, sie üben erst dann ihre
volle Wirkung aus, wenn sie verbunden sind mit den Melodieen, in deren
Interesse, in deren Dienst sie entstanden sind. Und dieser Einheit von Wort


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[0388] Immer aber, mochte er um Neues schaffen oder das Vorhandene nur undichten, ging er mit echt poetischem Feingefühl, mit einer wunderbaren Kunst der An- empfindung und vor allem mit der größten künstlerischen Gewissenhaftigkeit zu Werke. Sagte ihm eine Melodie nicht zu, dann erklärte er offen, nicht darnach dichten zu köunen. Ganz unberührt blieb keiner der alten Texte. „Wenige, sagt Walter Scott, kamen aus seinen Händen, ohne einige jener magischen Pinselstriche erhalten zu haben, die, ohne das Lied wesentlich zu ändern, ihnen den ursprünglichen Geist wiedergaben oder mehr verliehen, als es vorher be¬ sessen hatte." Es ist das Gleiche, was man an Goethe gerühmt hat, wenn man sagte, daß er das „Haidenröslein" in der Fassung, die er ihm verliehen, gleichsam „zu seinem Ideal znrückgedichtet habe." Was Burns sür die schottischen Volksmelodien in seinen „Liedern und Balladen" geleistet, leistete elf Jahre uach Burns Tode, 1807, Thomas Moore, der „irische Burns", wie man ihn deshalb genannt hat, für die irischen in seinen nicht minder berühmt gewordenen „Irisll Nslocllss", nachdem allerdings vor¬ her schon Ausgaben altirischcr Lieder von O'Brien und Molloy erschienen waren. Für die walisischen Volkslieder übernahm die bekannte englische Dichterin Felicia Heinans die gleiche Aufgabe in einer Sammlung von „'Uslell msloäios", die Parry um dieselbe Zeit veranstaltete, nur daß sie ihre Dichtungen nicht völlig frei erfand, sondern ihnen meist den Inhalt wirklich vorhandener alter khmrischer Lieder zu Grunde legte. Endlich hat auch Walter Scott bei einer großen Anzahl seiner „Lieder und Balladen" alte, namentlich auch walisische Volksweisen im Ange gehabt und jene mit direktem Bezug auf sie gedichtet. Von allen diesen Schätzen der englischen Lhrik waren in Dentschland bis vor wenigen Jahren die echt volksthümlichen Lieder so gut wie unbekannt, die von Burns, Thomas Moore, Felicia Heinans und Walter Scott umgedichteten oder neugedichteten Lieder höchstens dem Texte nach bekannt. Von Burns' „Liedern und Balladen" haben wir mehr als eine gute deutsche Uebersetzung. Von den Melodien aller dieser Lieder aber ist nur ganz vereinzelt die eine oder andere nach Deutschland gedrungen und keine populär geworden. Dahin gehören die oben erwähnten vier. Und doch bei aller Schönheit, die hinreichte, ihnen, auch abgelöst vom musikalischen Vortrage, ihre Wirkung zu sichern, was sind diese Texte ohne die Melodien, für die sie gedichtet sind! Der Wunsch, die Lieder singen zu köunen, liegt so unendlich nahe, daß Burus'sche Lieder ja in großer Anzahl von deutschen Componisten in Musik gesetzt worden sind. Nicht für das Auge zum stillen Lesen, für das Ohr sind sie bestimmt. Burns' Lieder vor allem sind, was sie sind, erst dann ganz, sie üben erst dann ihre volle Wirkung aus, wenn sie verbunden sind mit den Melodieen, in deren Interesse, in deren Dienst sie entstanden sind. Und dieser Einheit von Wort

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157661/388>, abgerufen am 22.07.2024.