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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band.

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bleibt Salman und Morolt, ein Gedicht, das leider immer noch einer kritischen
Herausgabe harrt. Moritz Haupt, der eine solche beabsichtigte, ist durch den
Tod daran verhindert worden. W. Scherer macht in seiner "Geschichte der
deutschen Dichtung des 11. und 12. Jahrhunderts" (S. 113) auf die Schilderung
aufmerksam, die Ranke (Zur Geschichte der italienischen Poesie S. 19 f.), von
dem Raccontatore in den Straßen von Venedig giebt: Auf der Riva Schiavone
zu Venedig sieht man diesen "Erzähler" alle Tage, wenn Feierabend gemacht
wird, seine Zuhörer um sich sammeln. Er trägt ihnen ein Märchen oder die
Geschichte eines Kriegshelden vor; in der Mitte, wenn das Interesse gespannt
ist, hält er inne, um seine Centesimi einzuheimsen und sich durch einen Trunk
zu erquicken; dann fährt er mit Behagen in seiner Darstellung fort. Genau
so haben wir uns den Dichter des "Morolt" unter seinem Publikum zu
denken. Er hat sein Gedicht nicht in Gesänge, sondern gleichsam in Trunke
abgetheilt. Er führt uns eine bunte Reihe von Begebenheiten vor, und wenn
es am tollsten hergeht, die Spannung am höchsten ist und eine Katastrophe
bevorsteht, dann -- verlangt er nach einer Erfrischung für seine durstige Kehle,
bevor er seine interessante Geschichte fortsetzt.

Zu Jerusalem, so beginnt er, herrschte König Salomo, der höchste Herr
über alle Christenheit; seine Frau, mit Namen Salome, war eine heidnische
Fürstentochter, welche er von ganzer Seele liebte. "Volle Freude er mit ihr
pflag, wenn er in der Kammern an ihrem schneeweißen Arme lag/' Um diese
Schöne dem Salomo abzugewinnen, zieht König Pharo von Aegypten "der
auf der andern Seite des Wendelsees saß", vor die Burg Jerusalem mit
40,000 Mann; doch wird sein Heer geschlagen, er selbst gefangen und, trotzdem
daß der stolze Herzog Morolt, Salomo's listiger Bruder es widerräth,
der Königin zum Gewahrsam übergeben. Diese entbrennt in heißer Liebe zu
dem Gefangenen, löst seine Bande und läßt ihn entrinnen. Bald folgt sie
selber dem Geliebten nach: Mittels einer "zauberkräftigen Wnrz" stellt sie sich
todt, wird in dem königlichen Grabgewölbe beigesetzt und durch einen Spiel-
mann, welcher zu diesem Zivecke von Pharo gesendet ist, heimlich nach Aegypten-
land entführt. Alsbald macht sich Morolt mit einem ledernen Schiffe auf,
die Entflohene zu suchen. Nach sieben Jahren kommt er endlich in "eines
alten greisen Juden Haut", in die er geschlüpft war, mit der Betteltasche,
auf eine Krücke gestützt, in die Burg, wo die Entflohene weilt. Der alte
Krüppel erregt Mitleid, wird gut verpflegt, dann aber an einem Gesänge, den
er anstimme, von der Salome erkannt und in strenge Haft genommen, um am
andern Tage, sobald Pharo von der Jagd heimkehren würde, aufgeknüpft zu
werden. Doch der listige Mann weiß durch einen Schlaftrunk sich der
Wächter zu entledigen, scheert den Schlafenden sämmtlich eine Platte und sticht


Grenzboten III. 1S7S. 33

bleibt Salman und Morolt, ein Gedicht, das leider immer noch einer kritischen
Herausgabe harrt. Moritz Haupt, der eine solche beabsichtigte, ist durch den
Tod daran verhindert worden. W. Scherer macht in seiner „Geschichte der
deutschen Dichtung des 11. und 12. Jahrhunderts" (S. 113) auf die Schilderung
aufmerksam, die Ranke (Zur Geschichte der italienischen Poesie S. 19 f.), von
dem Raccontatore in den Straßen von Venedig giebt: Auf der Riva Schiavone
zu Venedig sieht man diesen „Erzähler" alle Tage, wenn Feierabend gemacht
wird, seine Zuhörer um sich sammeln. Er trägt ihnen ein Märchen oder die
Geschichte eines Kriegshelden vor; in der Mitte, wenn das Interesse gespannt
ist, hält er inne, um seine Centesimi einzuheimsen und sich durch einen Trunk
zu erquicken; dann fährt er mit Behagen in seiner Darstellung fort. Genau
so haben wir uns den Dichter des „Morolt" unter seinem Publikum zu
denken. Er hat sein Gedicht nicht in Gesänge, sondern gleichsam in Trunke
abgetheilt. Er führt uns eine bunte Reihe von Begebenheiten vor, und wenn
es am tollsten hergeht, die Spannung am höchsten ist und eine Katastrophe
bevorsteht, dann — verlangt er nach einer Erfrischung für seine durstige Kehle,
bevor er seine interessante Geschichte fortsetzt.

Zu Jerusalem, so beginnt er, herrschte König Salomo, der höchste Herr
über alle Christenheit; seine Frau, mit Namen Salome, war eine heidnische
Fürstentochter, welche er von ganzer Seele liebte. „Volle Freude er mit ihr
pflag, wenn er in der Kammern an ihrem schneeweißen Arme lag/' Um diese
Schöne dem Salomo abzugewinnen, zieht König Pharo von Aegypten „der
auf der andern Seite des Wendelsees saß", vor die Burg Jerusalem mit
40,000 Mann; doch wird sein Heer geschlagen, er selbst gefangen und, trotzdem
daß der stolze Herzog Morolt, Salomo's listiger Bruder es widerräth,
der Königin zum Gewahrsam übergeben. Diese entbrennt in heißer Liebe zu
dem Gefangenen, löst seine Bande und läßt ihn entrinnen. Bald folgt sie
selber dem Geliebten nach: Mittels einer „zauberkräftigen Wnrz" stellt sie sich
todt, wird in dem königlichen Grabgewölbe beigesetzt und durch einen Spiel-
mann, welcher zu diesem Zivecke von Pharo gesendet ist, heimlich nach Aegypten-
land entführt. Alsbald macht sich Morolt mit einem ledernen Schiffe auf,
die Entflohene zu suchen. Nach sieben Jahren kommt er endlich in „eines
alten greisen Juden Haut", in die er geschlüpft war, mit der Betteltasche,
auf eine Krücke gestützt, in die Burg, wo die Entflohene weilt. Der alte
Krüppel erregt Mitleid, wird gut verpflegt, dann aber an einem Gesänge, den
er anstimme, von der Salome erkannt und in strenge Haft genommen, um am
andern Tage, sobald Pharo von der Jagd heimkehren würde, aufgeknüpft zu
werden. Doch der listige Mann weiß durch einen Schlaftrunk sich der
Wächter zu entledigen, scheert den Schlafenden sämmtlich eine Platte und sticht


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[0265] bleibt Salman und Morolt, ein Gedicht, das leider immer noch einer kritischen Herausgabe harrt. Moritz Haupt, der eine solche beabsichtigte, ist durch den Tod daran verhindert worden. W. Scherer macht in seiner „Geschichte der deutschen Dichtung des 11. und 12. Jahrhunderts" (S. 113) auf die Schilderung aufmerksam, die Ranke (Zur Geschichte der italienischen Poesie S. 19 f.), von dem Raccontatore in den Straßen von Venedig giebt: Auf der Riva Schiavone zu Venedig sieht man diesen „Erzähler" alle Tage, wenn Feierabend gemacht wird, seine Zuhörer um sich sammeln. Er trägt ihnen ein Märchen oder die Geschichte eines Kriegshelden vor; in der Mitte, wenn das Interesse gespannt ist, hält er inne, um seine Centesimi einzuheimsen und sich durch einen Trunk zu erquicken; dann fährt er mit Behagen in seiner Darstellung fort. Genau so haben wir uns den Dichter des „Morolt" unter seinem Publikum zu denken. Er hat sein Gedicht nicht in Gesänge, sondern gleichsam in Trunke abgetheilt. Er führt uns eine bunte Reihe von Begebenheiten vor, und wenn es am tollsten hergeht, die Spannung am höchsten ist und eine Katastrophe bevorsteht, dann — verlangt er nach einer Erfrischung für seine durstige Kehle, bevor er seine interessante Geschichte fortsetzt. Zu Jerusalem, so beginnt er, herrschte König Salomo, der höchste Herr über alle Christenheit; seine Frau, mit Namen Salome, war eine heidnische Fürstentochter, welche er von ganzer Seele liebte. „Volle Freude er mit ihr pflag, wenn er in der Kammern an ihrem schneeweißen Arme lag/' Um diese Schöne dem Salomo abzugewinnen, zieht König Pharo von Aegypten „der auf der andern Seite des Wendelsees saß", vor die Burg Jerusalem mit 40,000 Mann; doch wird sein Heer geschlagen, er selbst gefangen und, trotzdem daß der stolze Herzog Morolt, Salomo's listiger Bruder es widerräth, der Königin zum Gewahrsam übergeben. Diese entbrennt in heißer Liebe zu dem Gefangenen, löst seine Bande und läßt ihn entrinnen. Bald folgt sie selber dem Geliebten nach: Mittels einer „zauberkräftigen Wnrz" stellt sie sich todt, wird in dem königlichen Grabgewölbe beigesetzt und durch einen Spiel- mann, welcher zu diesem Zivecke von Pharo gesendet ist, heimlich nach Aegypten- land entführt. Alsbald macht sich Morolt mit einem ledernen Schiffe auf, die Entflohene zu suchen. Nach sieben Jahren kommt er endlich in „eines alten greisen Juden Haut", in die er geschlüpft war, mit der Betteltasche, auf eine Krücke gestützt, in die Burg, wo die Entflohene weilt. Der alte Krüppel erregt Mitleid, wird gut verpflegt, dann aber an einem Gesänge, den er anstimme, von der Salome erkannt und in strenge Haft genommen, um am andern Tage, sobald Pharo von der Jagd heimkehren würde, aufgeknüpft zu werden. Doch der listige Mann weiß durch einen Schlaftrunk sich der Wächter zu entledigen, scheert den Schlafenden sämmtlich eine Platte und sticht Grenzboten III. 1S7S. 33

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157661/265>, abgerufen am 30.06.2024.