Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

es ist beinahe ein Frevel. Warum erzählt der Herausgeber nicht kurz im
Zusammenhange nach Herodot die Geschichte vom Ringe des Polykrates und
von dem Tode des Herrschers? Warum fügt er nicht in diese Quellenangaben
ein, was er über Samos, Milet, Kreta und die Erinyen zu sagen hat?
Warum zeigt er nicht, mit welcher wunderbaren dramatischen Kraft der
Dichter die simple Geschichte in eine Bilderreihe von unvergleichlicher Klar¬
heit und Plastik aufgelöst hat? Warum hebt er nicht den Grundgedanken der
Dichtung hervor, jenen Glaubenssatz der althellenischer Religion, dem auch
uns ersprießlich wäre nachzuleben, daß der Mensch sich vor der Hybris, der
Ueberhebung zu hüten habe, wenn er nicht den Neid der Götter und das
Unglück auf sich herabbeschwören will? Weil er das für "ästhetisirendes
Raisonnement" hält, das man in jedem "Nachschlagwerke" finden kann"? Nein,
weil er keinen Schimmer hat von dem, was ein Kommentar zu einer Dichtung
in erster Linie zu leisten hat.

Das Beste kommt aber noch. Herr Armknecht Hot nicht blos eine närrische
Freude am Etymologisiren, sondern in dem Realschuldirektor von Varel ist der
Welt auch ein Vortragsmeister, ein Deklamator, ein Rezitator, wo nicht gar
ein Schauspieler ersten Ranges verloren gegangen. Ein Glück, daß er das, was er
auf der Bühne nicht durch das Beispiel wirken kann, hier in seinem Buche durch
Schrift und Lehre wirkt. Die Idee, die er in dieser Beziehung gehabt hat,
ist jedenfalls bahnbrechend. Er hat sich einfach die Frage vorgelegt, ob nicht
ebenso, wie der Komponist dem Spieler durch Tempo- und Vortragszeichen,
durch torts und xiano, "rssosuZo und äserssosnäo, aooLloi-Wäo und ritaräanäo,
maestoso, imäants, iülöA'ro, xrssto und turioso an die Hand geht, auch bei
den Werken der Dichter verfahren werden könne. Er hat sich diese Frage be¬
jaht, hat es gewagt, neben seinen Anmerkungsziffern auch gleich noch Vortrags-
vemerkungen in den Text der Gedichte hineindrucken zu lassen, außerdem die
zu betonenden Worte -- notabene nach seiner Ansicht zu betonenden, die aller¬
dings, gelinde gesagt, oft höchst originell ist -- gesperrt drucken lassen, und
siehe da, der große Wurf ist gelungen. Wir geben auch hiervon eine Probe,
der Raumersparnis^ wegen zwar eine möglichst kleine, an der sich aber doch die
neue Erfindung des Herausgebers genügend bewundern läßt, den "Erlkönig".


Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?
(Stimmwechsel)
Es ist der Vater mit seinem Kind;
Er hat den Knaben wohl in dem Arm,
Er faßt ihn sicher, er hält ihn warm.
(Stimme des Vaters)
Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht?
(zart, Stimme des Kindes, nicht ängstlich, aber spannnngsooll)
Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?

es ist beinahe ein Frevel. Warum erzählt der Herausgeber nicht kurz im
Zusammenhange nach Herodot die Geschichte vom Ringe des Polykrates und
von dem Tode des Herrschers? Warum fügt er nicht in diese Quellenangaben
ein, was er über Samos, Milet, Kreta und die Erinyen zu sagen hat?
Warum zeigt er nicht, mit welcher wunderbaren dramatischen Kraft der
Dichter die simple Geschichte in eine Bilderreihe von unvergleichlicher Klar¬
heit und Plastik aufgelöst hat? Warum hebt er nicht den Grundgedanken der
Dichtung hervor, jenen Glaubenssatz der althellenischer Religion, dem auch
uns ersprießlich wäre nachzuleben, daß der Mensch sich vor der Hybris, der
Ueberhebung zu hüten habe, wenn er nicht den Neid der Götter und das
Unglück auf sich herabbeschwören will? Weil er das für „ästhetisirendes
Raisonnement" hält, das man in jedem „Nachschlagwerke" finden kann"? Nein,
weil er keinen Schimmer hat von dem, was ein Kommentar zu einer Dichtung
in erster Linie zu leisten hat.

Das Beste kommt aber noch. Herr Armknecht Hot nicht blos eine närrische
Freude am Etymologisiren, sondern in dem Realschuldirektor von Varel ist der
Welt auch ein Vortragsmeister, ein Deklamator, ein Rezitator, wo nicht gar
ein Schauspieler ersten Ranges verloren gegangen. Ein Glück, daß er das, was er
auf der Bühne nicht durch das Beispiel wirken kann, hier in seinem Buche durch
Schrift und Lehre wirkt. Die Idee, die er in dieser Beziehung gehabt hat,
ist jedenfalls bahnbrechend. Er hat sich einfach die Frage vorgelegt, ob nicht
ebenso, wie der Komponist dem Spieler durch Tempo- und Vortragszeichen,
durch torts und xiano, «rssosuZo und äserssosnäo, aooLloi-Wäo und ritaräanäo,
maestoso, imäants, iülöA'ro, xrssto und turioso an die Hand geht, auch bei
den Werken der Dichter verfahren werden könne. Er hat sich diese Frage be¬
jaht, hat es gewagt, neben seinen Anmerkungsziffern auch gleich noch Vortrags-
vemerkungen in den Text der Gedichte hineindrucken zu lassen, außerdem die
zu betonenden Worte — notabene nach seiner Ansicht zu betonenden, die aller¬
dings, gelinde gesagt, oft höchst originell ist — gesperrt drucken lassen, und
siehe da, der große Wurf ist gelungen. Wir geben auch hiervon eine Probe,
der Raumersparnis^ wegen zwar eine möglichst kleine, an der sich aber doch die
neue Erfindung des Herausgebers genügend bewundern läßt, den „Erlkönig".


Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?
(Stimmwechsel)
Es ist der Vater mit seinem Kind;
Er hat den Knaben wohl in dem Arm,
Er faßt ihn sicher, er hält ihn warm.
(Stimme des Vaters)
Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht?
(zart, Stimme des Kindes, nicht ängstlich, aber spannnngsooll)
Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0507" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/140328"/>
          <p xml:id="ID_1454" prev="#ID_1453"> es ist beinahe ein Frevel. Warum erzählt der Herausgeber nicht kurz im<lb/>
Zusammenhange nach Herodot die Geschichte vom Ringe des Polykrates und<lb/>
von dem Tode des Herrschers? Warum fügt er nicht in diese Quellenangaben<lb/>
ein, was er über Samos, Milet, Kreta und die Erinyen zu sagen hat?<lb/>
Warum zeigt er nicht, mit welcher wunderbaren dramatischen Kraft der<lb/>
Dichter die simple Geschichte in eine Bilderreihe von unvergleichlicher Klar¬<lb/>
heit und Plastik aufgelöst hat? Warum hebt er nicht den Grundgedanken der<lb/>
Dichtung hervor, jenen Glaubenssatz der althellenischer Religion, dem auch<lb/>
uns ersprießlich wäre nachzuleben, daß der Mensch sich vor der Hybris, der<lb/>
Ueberhebung zu hüten habe, wenn er nicht den Neid der Götter und das<lb/>
Unglück auf sich herabbeschwören will? Weil er das für &#x201E;ästhetisirendes<lb/>
Raisonnement" hält, das man in jedem &#x201E;Nachschlagwerke" finden kann"? Nein,<lb/>
weil er keinen Schimmer hat von dem, was ein Kommentar zu einer Dichtung<lb/>
in erster Linie zu leisten hat.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1455"> Das Beste kommt aber noch. Herr Armknecht Hot nicht blos eine närrische<lb/>
Freude am Etymologisiren, sondern in dem Realschuldirektor von Varel ist der<lb/>
Welt auch ein Vortragsmeister, ein Deklamator, ein Rezitator, wo nicht gar<lb/>
ein Schauspieler ersten Ranges verloren gegangen. Ein Glück, daß er das, was er<lb/>
auf der Bühne nicht durch das Beispiel wirken kann, hier in seinem Buche durch<lb/>
Schrift und Lehre wirkt. Die Idee, die er in dieser Beziehung gehabt hat,<lb/>
ist jedenfalls bahnbrechend. Er hat sich einfach die Frage vorgelegt, ob nicht<lb/>
ebenso, wie der Komponist dem Spieler durch Tempo- und Vortragszeichen,<lb/>
durch torts und xiano, «rssosuZo und äserssosnäo, aooLloi-Wäo und ritaräanäo,<lb/>
maestoso, imäants, iülöA'ro, xrssto und turioso an die Hand geht, auch bei<lb/>
den Werken der Dichter verfahren werden könne. Er hat sich diese Frage be¬<lb/>
jaht, hat es gewagt, neben seinen Anmerkungsziffern auch gleich noch Vortrags-<lb/>
vemerkungen in den Text der Gedichte hineindrucken zu lassen, außerdem die<lb/>
zu betonenden Worte &#x2014; notabene nach seiner Ansicht zu betonenden, die aller¬<lb/>
dings, gelinde gesagt, oft höchst originell ist &#x2014; gesperrt drucken lassen, und<lb/>
siehe da, der große Wurf ist gelungen. Wir geben auch hiervon eine Probe,<lb/>
der Raumersparnis^ wegen zwar eine möglichst kleine, an der sich aber doch die<lb/>
neue Erfindung des Herausgebers genügend bewundern läßt, den &#x201E;Erlkönig".</p><lb/>
          <quote>
            <lg xml:id="POEMID_5" type="poem">
              <l> Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?<lb/>
(Stimmwechsel)<lb/>
Es ist der Vater mit seinem Kind;<lb/>
Er hat den Knaben wohl in dem Arm,<lb/>
Er faßt ihn sicher, er hält ihn warm.<lb/>
(Stimme des Vaters)<lb/>
Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht?<lb/>
(zart, Stimme des Kindes, nicht ängstlich, aber spannnngsooll)<lb/>
Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?</l>
            </lg>
          </quote><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0507] es ist beinahe ein Frevel. Warum erzählt der Herausgeber nicht kurz im Zusammenhange nach Herodot die Geschichte vom Ringe des Polykrates und von dem Tode des Herrschers? Warum fügt er nicht in diese Quellenangaben ein, was er über Samos, Milet, Kreta und die Erinyen zu sagen hat? Warum zeigt er nicht, mit welcher wunderbaren dramatischen Kraft der Dichter die simple Geschichte in eine Bilderreihe von unvergleichlicher Klar¬ heit und Plastik aufgelöst hat? Warum hebt er nicht den Grundgedanken der Dichtung hervor, jenen Glaubenssatz der althellenischer Religion, dem auch uns ersprießlich wäre nachzuleben, daß der Mensch sich vor der Hybris, der Ueberhebung zu hüten habe, wenn er nicht den Neid der Götter und das Unglück auf sich herabbeschwören will? Weil er das für „ästhetisirendes Raisonnement" hält, das man in jedem „Nachschlagwerke" finden kann"? Nein, weil er keinen Schimmer hat von dem, was ein Kommentar zu einer Dichtung in erster Linie zu leisten hat. Das Beste kommt aber noch. Herr Armknecht Hot nicht blos eine närrische Freude am Etymologisiren, sondern in dem Realschuldirektor von Varel ist der Welt auch ein Vortragsmeister, ein Deklamator, ein Rezitator, wo nicht gar ein Schauspieler ersten Ranges verloren gegangen. Ein Glück, daß er das, was er auf der Bühne nicht durch das Beispiel wirken kann, hier in seinem Buche durch Schrift und Lehre wirkt. Die Idee, die er in dieser Beziehung gehabt hat, ist jedenfalls bahnbrechend. Er hat sich einfach die Frage vorgelegt, ob nicht ebenso, wie der Komponist dem Spieler durch Tempo- und Vortragszeichen, durch torts und xiano, «rssosuZo und äserssosnäo, aooLloi-Wäo und ritaräanäo, maestoso, imäants, iülöA'ro, xrssto und turioso an die Hand geht, auch bei den Werken der Dichter verfahren werden könne. Er hat sich diese Frage be¬ jaht, hat es gewagt, neben seinen Anmerkungsziffern auch gleich noch Vortrags- vemerkungen in den Text der Gedichte hineindrucken zu lassen, außerdem die zu betonenden Worte — notabene nach seiner Ansicht zu betonenden, die aller¬ dings, gelinde gesagt, oft höchst originell ist — gesperrt drucken lassen, und siehe da, der große Wurf ist gelungen. Wir geben auch hiervon eine Probe, der Raumersparnis^ wegen zwar eine möglichst kleine, an der sich aber doch die neue Erfindung des Herausgebers genügend bewundern läßt, den „Erlkönig". Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? (Stimmwechsel) Es ist der Vater mit seinem Kind; Er hat den Knaben wohl in dem Arm, Er faßt ihn sicher, er hält ihn warm. (Stimme des Vaters) Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht? (zart, Stimme des Kindes, nicht ängstlich, aber spannnngsooll) Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/507
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/507>, abgerufen am 01.09.2024.