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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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dem Gedanken der Unsterblichkeit gemeinhin inhärirt. Es wird nun nicht mehr
schon in diesem Leben mit den Verhältnissen des zukünftigen gerechnet, weil
man Alles, was jenseits des Grabes liegt, als für unser Begreifen ewig ver¬
schlossen der Gottheit anheimstellt.

Die ganze Darlegung des Verfassers über Abstammungslehre, Religion
und Kirche ist eine vorzügliche Arbeit. In jedem Falle wäre es thöricht, wenn
die Kirche vor dem Darwinismus den Kopf in den Sand stecken wollte, um
die Gefahren, welche drohen, nicht zu sehen, oder wenn eine gewisse Richtung
der Theologie meint, daß selbst ein etwaiger Sieg der Deszendenzlehre, Dog-
matik und Kirche, wie sie historisch geworden sind und feststehen, gar nicht be¬
rühren werde. Festen Muth, ja geradezu freudige Zuversicht gegenüber dem
richtig verstandenen Darwinismus, d. i. gegenüber dem Entmickelungsgedanken
in seiner teleologischen Fassung kann nur die Kirche haben, aber diese auch
in vollstem Maße, welche, selbst auf dem Gedanken des unausgesetzten Stre-
bens, der nie gehemmten Entwickelung ruhend, die Völker zur Wahrheit führen
und leiten will. Die Entwickelungslehre ist ein Produkt echt protestantischen
Geistes.

Nach den bisherigen Ausführungen bleibt dem Verfasser noch übrig,
schließlich das Verhältniß der Abstammungslehre zur Sittlichkeit darzulegen.
Dasselbe ergiebt sich lediglich als logische Folgerung aus den bereits aufge¬
stellten und bewiesenen Prämissen. Diese Folgerung besagt, daß die teleo-
logische Abstammungs- und Entwickelungslehre sich mit der Sittlichkeit in
deren vollstem Sinne wohl verträgt, daß aber gerade das Gegentheil der Fall
ist in Bezug auf das nur mechanisch und zufällig wirkende und
Religion im Grunde ausschließende Prinzip der natürlichen Zuchtwahl im
Kampfe ums Dasein, also in Bezug auf die Selektionstheorie oder den eigent¬
lichen Darwinismus. Hierbei gelangt der Verfasser zu folgenden drei Sätzen:
1. Wenn die Menschheit mit der nnr mechanistischen Weltauffassung Darwin's
angefangen hätte, und also auch nie zur Bildung der historisch hervorgetretenen
Religionen gelangt wäre, so hätte es die Sittlichkeit nur zur Legalität, nie
zur Moralität gebracht (s. oben). 2. Wenn diese Weltauffassung heute zur
allgemeinen Geltung gelangte, und also den bestehenden Religionen den sofor¬
tigen Tod brächte, so wäre die volle Sittlichkeit für den Augenblick wohl
keineswegs in Frage, weil und nachdem das Gewissen im Laufe der Jahr¬
hunderte soweit veredelt worden ist, daß es ein Rechtthun nicht nur nus Ge¬
setzes- und Nützlichkeitsrücksichten, sondern auch aus edler, uninteressirter Ge¬
sinnung unmittelbar gebietet. 3. Wenn wir uns aber die Zukunft ohne Reli¬
gion und lediglich nur durch das Prinzip der natürlichen Zuchtwahl im
Daseinskampfe geleitet denken, so bliebe zwar die Sittlichkeit als Legalität für


dem Gedanken der Unsterblichkeit gemeinhin inhärirt. Es wird nun nicht mehr
schon in diesem Leben mit den Verhältnissen des zukünftigen gerechnet, weil
man Alles, was jenseits des Grabes liegt, als für unser Begreifen ewig ver¬
schlossen der Gottheit anheimstellt.

Die ganze Darlegung des Verfassers über Abstammungslehre, Religion
und Kirche ist eine vorzügliche Arbeit. In jedem Falle wäre es thöricht, wenn
die Kirche vor dem Darwinismus den Kopf in den Sand stecken wollte, um
die Gefahren, welche drohen, nicht zu sehen, oder wenn eine gewisse Richtung
der Theologie meint, daß selbst ein etwaiger Sieg der Deszendenzlehre, Dog-
matik und Kirche, wie sie historisch geworden sind und feststehen, gar nicht be¬
rühren werde. Festen Muth, ja geradezu freudige Zuversicht gegenüber dem
richtig verstandenen Darwinismus, d. i. gegenüber dem Entmickelungsgedanken
in seiner teleologischen Fassung kann nur die Kirche haben, aber diese auch
in vollstem Maße, welche, selbst auf dem Gedanken des unausgesetzten Stre-
bens, der nie gehemmten Entwickelung ruhend, die Völker zur Wahrheit führen
und leiten will. Die Entwickelungslehre ist ein Produkt echt protestantischen
Geistes.

Nach den bisherigen Ausführungen bleibt dem Verfasser noch übrig,
schließlich das Verhältniß der Abstammungslehre zur Sittlichkeit darzulegen.
Dasselbe ergiebt sich lediglich als logische Folgerung aus den bereits aufge¬
stellten und bewiesenen Prämissen. Diese Folgerung besagt, daß die teleo-
logische Abstammungs- und Entwickelungslehre sich mit der Sittlichkeit in
deren vollstem Sinne wohl verträgt, daß aber gerade das Gegentheil der Fall
ist in Bezug auf das nur mechanisch und zufällig wirkende und
Religion im Grunde ausschließende Prinzip der natürlichen Zuchtwahl im
Kampfe ums Dasein, also in Bezug auf die Selektionstheorie oder den eigent¬
lichen Darwinismus. Hierbei gelangt der Verfasser zu folgenden drei Sätzen:
1. Wenn die Menschheit mit der nnr mechanistischen Weltauffassung Darwin's
angefangen hätte, und also auch nie zur Bildung der historisch hervorgetretenen
Religionen gelangt wäre, so hätte es die Sittlichkeit nur zur Legalität, nie
zur Moralität gebracht (s. oben). 2. Wenn diese Weltauffassung heute zur
allgemeinen Geltung gelangte, und also den bestehenden Religionen den sofor¬
tigen Tod brächte, so wäre die volle Sittlichkeit für den Augenblick wohl
keineswegs in Frage, weil und nachdem das Gewissen im Laufe der Jahr¬
hunderte soweit veredelt worden ist, daß es ein Rechtthun nicht nur nus Ge¬
setzes- und Nützlichkeitsrücksichten, sondern auch aus edler, uninteressirter Ge¬
sinnung unmittelbar gebietet. 3. Wenn wir uns aber die Zukunft ohne Reli¬
gion und lediglich nur durch das Prinzip der natürlichen Zuchtwahl im
Daseinskampfe geleitet denken, so bliebe zwar die Sittlichkeit als Legalität für


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[0498] dem Gedanken der Unsterblichkeit gemeinhin inhärirt. Es wird nun nicht mehr schon in diesem Leben mit den Verhältnissen des zukünftigen gerechnet, weil man Alles, was jenseits des Grabes liegt, als für unser Begreifen ewig ver¬ schlossen der Gottheit anheimstellt. Die ganze Darlegung des Verfassers über Abstammungslehre, Religion und Kirche ist eine vorzügliche Arbeit. In jedem Falle wäre es thöricht, wenn die Kirche vor dem Darwinismus den Kopf in den Sand stecken wollte, um die Gefahren, welche drohen, nicht zu sehen, oder wenn eine gewisse Richtung der Theologie meint, daß selbst ein etwaiger Sieg der Deszendenzlehre, Dog- matik und Kirche, wie sie historisch geworden sind und feststehen, gar nicht be¬ rühren werde. Festen Muth, ja geradezu freudige Zuversicht gegenüber dem richtig verstandenen Darwinismus, d. i. gegenüber dem Entmickelungsgedanken in seiner teleologischen Fassung kann nur die Kirche haben, aber diese auch in vollstem Maße, welche, selbst auf dem Gedanken des unausgesetzten Stre- bens, der nie gehemmten Entwickelung ruhend, die Völker zur Wahrheit führen und leiten will. Die Entwickelungslehre ist ein Produkt echt protestantischen Geistes. Nach den bisherigen Ausführungen bleibt dem Verfasser noch übrig, schließlich das Verhältniß der Abstammungslehre zur Sittlichkeit darzulegen. Dasselbe ergiebt sich lediglich als logische Folgerung aus den bereits aufge¬ stellten und bewiesenen Prämissen. Diese Folgerung besagt, daß die teleo- logische Abstammungs- und Entwickelungslehre sich mit der Sittlichkeit in deren vollstem Sinne wohl verträgt, daß aber gerade das Gegentheil der Fall ist in Bezug auf das nur mechanisch und zufällig wirkende und Religion im Grunde ausschließende Prinzip der natürlichen Zuchtwahl im Kampfe ums Dasein, also in Bezug auf die Selektionstheorie oder den eigent¬ lichen Darwinismus. Hierbei gelangt der Verfasser zu folgenden drei Sätzen: 1. Wenn die Menschheit mit der nnr mechanistischen Weltauffassung Darwin's angefangen hätte, und also auch nie zur Bildung der historisch hervorgetretenen Religionen gelangt wäre, so hätte es die Sittlichkeit nur zur Legalität, nie zur Moralität gebracht (s. oben). 2. Wenn diese Weltauffassung heute zur allgemeinen Geltung gelangte, und also den bestehenden Religionen den sofor¬ tigen Tod brächte, so wäre die volle Sittlichkeit für den Augenblick wohl keineswegs in Frage, weil und nachdem das Gewissen im Laufe der Jahr¬ hunderte soweit veredelt worden ist, daß es ein Rechtthun nicht nur nus Ge¬ setzes- und Nützlichkeitsrücksichten, sondern auch aus edler, uninteressirter Ge¬ sinnung unmittelbar gebietet. 3. Wenn wir uns aber die Zukunft ohne Reli¬ gion und lediglich nur durch das Prinzip der natürlichen Zuchtwahl im Daseinskampfe geleitet denken, so bliebe zwar die Sittlichkeit als Legalität für

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/498>, abgerufen am 04.01.2025.