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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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befehden, immer aber sich klären und fördern. Diese Weltidee ist ihrem Wesen
nach eine solche Aktivität, welche zweckmüßige, planvolle Wirkungen ohne
Weiteres zur Folge hat, und es thut dabei nichts zur Sache, ob wir dieselbe
bewußt oder unbewußt, persönlich oder unpersönlich uns vorstellen zu müssen
glauben. Also gibt es eine Teleologie, welche mit dem Darwinismus, das ist
mit der Deszendenztheorie nicht nur vereinbar, sondern nahezu identisch ist.
Der Verfasser hält erwiesen, daß die Annahme einer Weltidee alle Erforder¬
nisse besitzt, um als streng wissenschaftliche Hypothese gelten zu können. "Wenn
also die exakte Forschung behauptet: Ein Gott ist in der Welt ausgeschlossen,
so sage ich bestimmt: Er ist eher ein- als ausgeschlossen."

Findet also der Gottesgedanke in der Deszendenztheorie ganz wohl seine
Stelle, so verhält es sich freilich ganz anders mit der Ausdeutung und Ver-
sinnlichung des Gottesgedankens, mit Dogmatik und Kirche. Diese beiden
müssen sich auf tief einschneidende Folgerungen gefaßt machen. Knsre Schrift
erweist dies an dem Grundgedanken der Deszendenztheorie, das ist an dem Ge¬
danken der Entwickelung überhaupt, sodann der Gesetzmäßigkeit, der Immanenz
und endlich der blos transitorischen Bedeutung des Einzelnen gegenüber dem
Ganzen. In ersterer Hinsicht verträgt sich die Deszendenztheorie ausschließlich
nur mit dem den Grundsatz des Fortschritts unbedingt anerkennenden freien
Protestantismus, während ihr Sieg z. B. den Tod des Katholizismus bedeutet,
da von diesem der Gedanke der Stabilität untrennbar ist. Vor dem Gedanken
der Gesetzmäßigkeit stillt der Wunderglaube dahin, und der Gedanke der
Immanenz hebt den der Transzendenz auf. Mit letzterem füllt die Scheide¬
wand zwischen Gott und Welt, sowie der ganze Offenbarungsglaube im dog¬
matischen Sinn, indem von nun an als Offenbarung nur das gelten kann,
was der Mensch selbst aus der Tiefe seines eigenen Innern schöpft oder richtiger:
was die Weltidee durch Helden des Geistes wirkt. Der Gedanke der blos
transitorischen Bedeutung des Einzelnen endlich gegenüber dem Ganzen unter¬
grübt den anthropozentrischen Standpunkt, wonach sich die ganze Welt, ja die
Gottheit selbst lediglich nur um Wohl und Weh der Menschen dreht. "Der
Mensch ist nur ein Anfang, ein Entwurf zu etwas Vollkommnerem; er hat auch
nur Anfangsgründe von Wahrheit, Weisheit und Vernunft; er befindet sich
auch noch in der Morgendämmerung, gleichsam in der coecum Epoche von
dein, was Gerechtigkeit genannt wird. Selbst im Alter und im Tode ist er
immer noch ein Embryo."*) Diese Erkenntniß gewährt aber eine werthvolle
Bereicherung und Vertiefung der religiösen Idee, indem sie zur Demuth, zur
Bescheidenheit leitet, vor Allem aber jede Lohnsncht ertödtet, speziell die, welche



*) Ed. Quinet: Die Schöpfung. Deutsche Ausgabe it. 37S.

befehden, immer aber sich klären und fördern. Diese Weltidee ist ihrem Wesen
nach eine solche Aktivität, welche zweckmüßige, planvolle Wirkungen ohne
Weiteres zur Folge hat, und es thut dabei nichts zur Sache, ob wir dieselbe
bewußt oder unbewußt, persönlich oder unpersönlich uns vorstellen zu müssen
glauben. Also gibt es eine Teleologie, welche mit dem Darwinismus, das ist
mit der Deszendenztheorie nicht nur vereinbar, sondern nahezu identisch ist.
Der Verfasser hält erwiesen, daß die Annahme einer Weltidee alle Erforder¬
nisse besitzt, um als streng wissenschaftliche Hypothese gelten zu können. „Wenn
also die exakte Forschung behauptet: Ein Gott ist in der Welt ausgeschlossen,
so sage ich bestimmt: Er ist eher ein- als ausgeschlossen."

Findet also der Gottesgedanke in der Deszendenztheorie ganz wohl seine
Stelle, so verhält es sich freilich ganz anders mit der Ausdeutung und Ver-
sinnlichung des Gottesgedankens, mit Dogmatik und Kirche. Diese beiden
müssen sich auf tief einschneidende Folgerungen gefaßt machen. Knsre Schrift
erweist dies an dem Grundgedanken der Deszendenztheorie, das ist an dem Ge¬
danken der Entwickelung überhaupt, sodann der Gesetzmäßigkeit, der Immanenz
und endlich der blos transitorischen Bedeutung des Einzelnen gegenüber dem
Ganzen. In ersterer Hinsicht verträgt sich die Deszendenztheorie ausschließlich
nur mit dem den Grundsatz des Fortschritts unbedingt anerkennenden freien
Protestantismus, während ihr Sieg z. B. den Tod des Katholizismus bedeutet,
da von diesem der Gedanke der Stabilität untrennbar ist. Vor dem Gedanken
der Gesetzmäßigkeit stillt der Wunderglaube dahin, und der Gedanke der
Immanenz hebt den der Transzendenz auf. Mit letzterem füllt die Scheide¬
wand zwischen Gott und Welt, sowie der ganze Offenbarungsglaube im dog¬
matischen Sinn, indem von nun an als Offenbarung nur das gelten kann,
was der Mensch selbst aus der Tiefe seines eigenen Innern schöpft oder richtiger:
was die Weltidee durch Helden des Geistes wirkt. Der Gedanke der blos
transitorischen Bedeutung des Einzelnen endlich gegenüber dem Ganzen unter¬
grübt den anthropozentrischen Standpunkt, wonach sich die ganze Welt, ja die
Gottheit selbst lediglich nur um Wohl und Weh der Menschen dreht. „Der
Mensch ist nur ein Anfang, ein Entwurf zu etwas Vollkommnerem; er hat auch
nur Anfangsgründe von Wahrheit, Weisheit und Vernunft; er befindet sich
auch noch in der Morgendämmerung, gleichsam in der coecum Epoche von
dein, was Gerechtigkeit genannt wird. Selbst im Alter und im Tode ist er
immer noch ein Embryo."*) Diese Erkenntniß gewährt aber eine werthvolle
Bereicherung und Vertiefung der religiösen Idee, indem sie zur Demuth, zur
Bescheidenheit leitet, vor Allem aber jede Lohnsncht ertödtet, speziell die, welche



*) Ed. Quinet: Die Schöpfung. Deutsche Ausgabe it. 37S.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/497>, abgerufen am 27.07.2024.