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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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Weise, wie kein andrer Faktor außer der Religion im Stande gewesen wäre,
dies zu thun. Wir begnügen uns, mit diesen Sätzen das kurz zusammenge¬
faßte Resultat der vorliegenden Untersuchung wiederzugeben. Mögen diejenigen,
welche sich durch uns etwa anregen lassen, das Büchlein selbst zur Hand zu
nehmen, sich die feinen Ausführungen zu besonderer Beachtung empfohlen sein
lassen.

Wer Recht thut, weil und soweit es das Wohl der Gesammtheit und damit
des Einzelnen erheischt, handelt legal; wer absolut frei von Rücksichten des
Vortheils, ja gegebenen Falles gegen sie das Gute nur des Guten wegen
vollbringt, handelt im eigentlichen Sinn moralisch; die Einheit von Legalität
und Moralität ist Sittlichkeit. Sittlichkeit und Religion ihren: Ursprünge und
Wesen nach gänzlich verschieden, ergänzen und fördern sich nach oben in dem
Sinne, daß einerseits die Sittlichkeit durch die Religion zur Moralität gelangt
und anderseits das Schema des religiösen Bewußtseins durch das Denken und
Wollen konkret, gehaltvoll wird. Diese Auffassung, ganz auf dem Gedanken
der Entwickelung ruhend, verträgt sich sehr gut mit der Deszendenztheorie,
wie sie nicht minder dem Christenthum inhärirt, wie schon oben erörtert wurde.

Welches wird nun der Einfluß sein, der sich bei Bejahung der Abstam¬
mungslehre auf Religion und Kirche geltend macht? Das Prinzip der natür¬
lichen Zuchtwahl im Kampf ums Dasein ist ateleolvgisch, mechanisch oder
will es doch sein; ist es mit den bestehenden Religionen, die sämmtlich den
teleologischen Gott bekennen. Zwar ist die Religion in der oben präzisirten
allgemeinen Fassung nicht nur bei dem Strauß'schen "Wir" möglich, sondern
sogar auch im Atheismus. Aber zwischen jenem Darwinismus, welche eine!
geistige Weltursache und in ihr das teleologische Moment ausdrücklich leugnet
und etwa dem Christenthum oder Judenthum besteht absolut keine Gemeinschaft
Trotzdem jedoch haben die gegebenen Religionen für ihr Fundament nichts zu
fürchten, und zwar, abgesehen von allem Andern, deshalb, weil die rein mecha¬
nische Weltauffassung noch in keiner Weise als ausschließlich richtig erwiesen
ist und -- wohl auch nie wird erwiesen werden können.

Nachdem nunmehr der Verfasser die teleologische Deszendenz und den
Gottesgedanken einer Erörterung unterzogen hat, fußt er auf der bereits früher
gewonnenen Basis, daß die Annahme einer individuellen Zweckthätigkeit nöthig
sei, und schließt von ihr ans auf die Nothwendigkeit der Annahme einer uni¬
versellen Zweckthätigkeit. Denn wo Pläne sind, muß auch ein Plan sein;
was Vorzug und Gut des Einzelnen ist, kommt auch dem Ganzen zu gut.
Aber niemals können die Individuen absolute Selbstzwecke sein; sie können
vielmehr nnr als Hilfszwecke des Ganzen begriffen werden, als Ableger der'
Weltidee, der sie dadurch dienen, daß sie sich gegenseitig bald unterstützen, bald


Weise, wie kein andrer Faktor außer der Religion im Stande gewesen wäre,
dies zu thun. Wir begnügen uns, mit diesen Sätzen das kurz zusammenge¬
faßte Resultat der vorliegenden Untersuchung wiederzugeben. Mögen diejenigen,
welche sich durch uns etwa anregen lassen, das Büchlein selbst zur Hand zu
nehmen, sich die feinen Ausführungen zu besonderer Beachtung empfohlen sein
lassen.

Wer Recht thut, weil und soweit es das Wohl der Gesammtheit und damit
des Einzelnen erheischt, handelt legal; wer absolut frei von Rücksichten des
Vortheils, ja gegebenen Falles gegen sie das Gute nur des Guten wegen
vollbringt, handelt im eigentlichen Sinn moralisch; die Einheit von Legalität
und Moralität ist Sittlichkeit. Sittlichkeit und Religion ihren: Ursprünge und
Wesen nach gänzlich verschieden, ergänzen und fördern sich nach oben in dem
Sinne, daß einerseits die Sittlichkeit durch die Religion zur Moralität gelangt
und anderseits das Schema des religiösen Bewußtseins durch das Denken und
Wollen konkret, gehaltvoll wird. Diese Auffassung, ganz auf dem Gedanken
der Entwickelung ruhend, verträgt sich sehr gut mit der Deszendenztheorie,
wie sie nicht minder dem Christenthum inhärirt, wie schon oben erörtert wurde.

Welches wird nun der Einfluß sein, der sich bei Bejahung der Abstam¬
mungslehre auf Religion und Kirche geltend macht? Das Prinzip der natür¬
lichen Zuchtwahl im Kampf ums Dasein ist ateleolvgisch, mechanisch oder
will es doch sein; ist es mit den bestehenden Religionen, die sämmtlich den
teleologischen Gott bekennen. Zwar ist die Religion in der oben präzisirten
allgemeinen Fassung nicht nur bei dem Strauß'schen „Wir" möglich, sondern
sogar auch im Atheismus. Aber zwischen jenem Darwinismus, welche eine!
geistige Weltursache und in ihr das teleologische Moment ausdrücklich leugnet
und etwa dem Christenthum oder Judenthum besteht absolut keine Gemeinschaft
Trotzdem jedoch haben die gegebenen Religionen für ihr Fundament nichts zu
fürchten, und zwar, abgesehen von allem Andern, deshalb, weil die rein mecha¬
nische Weltauffassung noch in keiner Weise als ausschließlich richtig erwiesen
ist und — wohl auch nie wird erwiesen werden können.

Nachdem nunmehr der Verfasser die teleologische Deszendenz und den
Gottesgedanken einer Erörterung unterzogen hat, fußt er auf der bereits früher
gewonnenen Basis, daß die Annahme einer individuellen Zweckthätigkeit nöthig
sei, und schließt von ihr ans auf die Nothwendigkeit der Annahme einer uni¬
versellen Zweckthätigkeit. Denn wo Pläne sind, muß auch ein Plan sein;
was Vorzug und Gut des Einzelnen ist, kommt auch dem Ganzen zu gut.
Aber niemals können die Individuen absolute Selbstzwecke sein; sie können
vielmehr nnr als Hilfszwecke des Ganzen begriffen werden, als Ableger der'
Weltidee, der sie dadurch dienen, daß sie sich gegenseitig bald unterstützen, bald


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[0496] Weise, wie kein andrer Faktor außer der Religion im Stande gewesen wäre, dies zu thun. Wir begnügen uns, mit diesen Sätzen das kurz zusammenge¬ faßte Resultat der vorliegenden Untersuchung wiederzugeben. Mögen diejenigen, welche sich durch uns etwa anregen lassen, das Büchlein selbst zur Hand zu nehmen, sich die feinen Ausführungen zu besonderer Beachtung empfohlen sein lassen. Wer Recht thut, weil und soweit es das Wohl der Gesammtheit und damit des Einzelnen erheischt, handelt legal; wer absolut frei von Rücksichten des Vortheils, ja gegebenen Falles gegen sie das Gute nur des Guten wegen vollbringt, handelt im eigentlichen Sinn moralisch; die Einheit von Legalität und Moralität ist Sittlichkeit. Sittlichkeit und Religion ihren: Ursprünge und Wesen nach gänzlich verschieden, ergänzen und fördern sich nach oben in dem Sinne, daß einerseits die Sittlichkeit durch die Religion zur Moralität gelangt und anderseits das Schema des religiösen Bewußtseins durch das Denken und Wollen konkret, gehaltvoll wird. Diese Auffassung, ganz auf dem Gedanken der Entwickelung ruhend, verträgt sich sehr gut mit der Deszendenztheorie, wie sie nicht minder dem Christenthum inhärirt, wie schon oben erörtert wurde. Welches wird nun der Einfluß sein, der sich bei Bejahung der Abstam¬ mungslehre auf Religion und Kirche geltend macht? Das Prinzip der natür¬ lichen Zuchtwahl im Kampf ums Dasein ist ateleolvgisch, mechanisch oder will es doch sein; ist es mit den bestehenden Religionen, die sämmtlich den teleologischen Gott bekennen. Zwar ist die Religion in der oben präzisirten allgemeinen Fassung nicht nur bei dem Strauß'schen „Wir" möglich, sondern sogar auch im Atheismus. Aber zwischen jenem Darwinismus, welche eine! geistige Weltursache und in ihr das teleologische Moment ausdrücklich leugnet und etwa dem Christenthum oder Judenthum besteht absolut keine Gemeinschaft Trotzdem jedoch haben die gegebenen Religionen für ihr Fundament nichts zu fürchten, und zwar, abgesehen von allem Andern, deshalb, weil die rein mecha¬ nische Weltauffassung noch in keiner Weise als ausschließlich richtig erwiesen ist und — wohl auch nie wird erwiesen werden können. Nachdem nunmehr der Verfasser die teleologische Deszendenz und den Gottesgedanken einer Erörterung unterzogen hat, fußt er auf der bereits früher gewonnenen Basis, daß die Annahme einer individuellen Zweckthätigkeit nöthig sei, und schließt von ihr ans auf die Nothwendigkeit der Annahme einer uni¬ versellen Zweckthätigkeit. Denn wo Pläne sind, muß auch ein Plan sein; was Vorzug und Gut des Einzelnen ist, kommt auch dem Ganzen zu gut. Aber niemals können die Individuen absolute Selbstzwecke sein; sie können vielmehr nnr als Hilfszwecke des Ganzen begriffen werden, als Ableger der' Weltidee, der sie dadurch dienen, daß sie sich gegenseitig bald unterstützen, bald

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/496>, abgerufen am 27.07.2024.