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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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angemessenerer Belebung und Füllung des religiösen Bezogenseins bedingt ist
durch den Grad der Denkarbeit, der geistigen und sittlichen Veredlung. An
und für sich trägt das religiöse Bezogensein in seiner ästhetischen Natur die
Garantie eines unzerstörbaren Bestandes. Religionslose Menschen kann es
nicht geben, die Religion wird niemals aufhören. Denn so gewiß die Mensch¬
heit auf die Empfindung des Schönen und Erhabenen angelegt ist und bleibt,
so gewiß ist und bleibt sie auf die Empfindung und Objektivation des Unend¬
lichen angelegt. Bei Allen aber bedarf die Veranlagung zur Religion der
Bildung und Veredelung, und es folgt mithin auch die bleibende Nothwendig¬
keit der äußeren Organisation der Andacht, der Kirche als einer Anstalt zur
Erziehung der Menschheit für das Ideale.

Das Resultat des ganzen Abschnittes über das gegenseitige Verhältniß von
Religion und Sittlichkeit wird dahin zusammengefaßt, daß das Sittengesetz im
Grunde reines Vernunftgesetz, von der Religion unabhängig ist, wohl aber von
der Religion, welche die Strebungen und Ideale des Wollens sittlich anregt
und vertieft, unterstützt wird, in ihr den Hauch der Idealität, der Veredelung
und Kräftigung empfängt. Oder mit andern Worten: die Sittlichkeit steht auf
eignen Füßen, erhält aber in der Religion ihre höhere Weihe, ihre Vollendung.

Das also in Bezug auf das gegenseitige Verhältniß von Religion und
Sittlichkeit gewonnene Resultat findet der Verfasser unserer Schrift bestätigt
durch den Entwickelungsgedanken. Das die Sittlichkeit normirende Gewissen
ist nichts anderes, als die Sprache der Gattungsidee, welche in das individuelle
Bewußtsein hereinragt und hier gegenüber allen Handlungen, welche der Würde
und dem Wohle des Ganzen zuwiderlaufen, Veto einlegt. Es ist somit wesent¬
lich rechtlicher Natur, geht in seiner Entwickelung zunächst nur auf legales
Rechtthun. Den Entwickelnngsgedcmken auf die Religion angewendet, so ergibt
sich, daß die ästhetische religiöse Beziehung des Individuums zum Ganzen um
ihn her in dem Grade lebendiger und inhaltreicher wurde, als sich die Ahnung
eines ursächlichen Zusammenhangs der Dinge kräftigte. Waren im Fetischis¬
mus Ursache und Wirkung noch mit einander identifizirt und verwechselt, so
verlegte der Dämonenglaube die Ursache hinter die Wirkung. Als das Denken
stark genug war, eine Fülle einzelner Erscheinungen unter eine höhere kausale
Einheit zu bringen, entstanden die höheren Naturgötter, und erst zuletzt vereinigten
sich alle Götter dem denkenden Geiste zusammen in ein einziges, die ganze
Welt verursachendes und beherrschendes Urwesen. Was endlich die Wechsel¬
beziehung zwischen Sittlichkeit und Religion betrifft, so zeigt die in dem Lichte
des Eutwickelungsgedankens statthabende Betrachtung, daß Sittlichkeit und
Religion eines das andere gefördert, vertieft, ergänzt haben. Speziell hat die
Religion die höhere Stufe der Sittlichkeit, die Moralität herbeigeführt, in einer


angemessenerer Belebung und Füllung des religiösen Bezogenseins bedingt ist
durch den Grad der Denkarbeit, der geistigen und sittlichen Veredlung. An
und für sich trägt das religiöse Bezogensein in seiner ästhetischen Natur die
Garantie eines unzerstörbaren Bestandes. Religionslose Menschen kann es
nicht geben, die Religion wird niemals aufhören. Denn so gewiß die Mensch¬
heit auf die Empfindung des Schönen und Erhabenen angelegt ist und bleibt,
so gewiß ist und bleibt sie auf die Empfindung und Objektivation des Unend¬
lichen angelegt. Bei Allen aber bedarf die Veranlagung zur Religion der
Bildung und Veredelung, und es folgt mithin auch die bleibende Nothwendig¬
keit der äußeren Organisation der Andacht, der Kirche als einer Anstalt zur
Erziehung der Menschheit für das Ideale.

Das Resultat des ganzen Abschnittes über das gegenseitige Verhältniß von
Religion und Sittlichkeit wird dahin zusammengefaßt, daß das Sittengesetz im
Grunde reines Vernunftgesetz, von der Religion unabhängig ist, wohl aber von
der Religion, welche die Strebungen und Ideale des Wollens sittlich anregt
und vertieft, unterstützt wird, in ihr den Hauch der Idealität, der Veredelung
und Kräftigung empfängt. Oder mit andern Worten: die Sittlichkeit steht auf
eignen Füßen, erhält aber in der Religion ihre höhere Weihe, ihre Vollendung.

Das also in Bezug auf das gegenseitige Verhältniß von Religion und
Sittlichkeit gewonnene Resultat findet der Verfasser unserer Schrift bestätigt
durch den Entwickelungsgedanken. Das die Sittlichkeit normirende Gewissen
ist nichts anderes, als die Sprache der Gattungsidee, welche in das individuelle
Bewußtsein hereinragt und hier gegenüber allen Handlungen, welche der Würde
und dem Wohle des Ganzen zuwiderlaufen, Veto einlegt. Es ist somit wesent¬
lich rechtlicher Natur, geht in seiner Entwickelung zunächst nur auf legales
Rechtthun. Den Entwickelnngsgedcmken auf die Religion angewendet, so ergibt
sich, daß die ästhetische religiöse Beziehung des Individuums zum Ganzen um
ihn her in dem Grade lebendiger und inhaltreicher wurde, als sich die Ahnung
eines ursächlichen Zusammenhangs der Dinge kräftigte. Waren im Fetischis¬
mus Ursache und Wirkung noch mit einander identifizirt und verwechselt, so
verlegte der Dämonenglaube die Ursache hinter die Wirkung. Als das Denken
stark genug war, eine Fülle einzelner Erscheinungen unter eine höhere kausale
Einheit zu bringen, entstanden die höheren Naturgötter, und erst zuletzt vereinigten
sich alle Götter dem denkenden Geiste zusammen in ein einziges, die ganze
Welt verursachendes und beherrschendes Urwesen. Was endlich die Wechsel¬
beziehung zwischen Sittlichkeit und Religion betrifft, so zeigt die in dem Lichte
des Eutwickelungsgedankens statthabende Betrachtung, daß Sittlichkeit und
Religion eines das andere gefördert, vertieft, ergänzt haben. Speziell hat die
Religion die höhere Stufe der Sittlichkeit, die Moralität herbeigeführt, in einer


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[0495] angemessenerer Belebung und Füllung des religiösen Bezogenseins bedingt ist durch den Grad der Denkarbeit, der geistigen und sittlichen Veredlung. An und für sich trägt das religiöse Bezogensein in seiner ästhetischen Natur die Garantie eines unzerstörbaren Bestandes. Religionslose Menschen kann es nicht geben, die Religion wird niemals aufhören. Denn so gewiß die Mensch¬ heit auf die Empfindung des Schönen und Erhabenen angelegt ist und bleibt, so gewiß ist und bleibt sie auf die Empfindung und Objektivation des Unend¬ lichen angelegt. Bei Allen aber bedarf die Veranlagung zur Religion der Bildung und Veredelung, und es folgt mithin auch die bleibende Nothwendig¬ keit der äußeren Organisation der Andacht, der Kirche als einer Anstalt zur Erziehung der Menschheit für das Ideale. Das Resultat des ganzen Abschnittes über das gegenseitige Verhältniß von Religion und Sittlichkeit wird dahin zusammengefaßt, daß das Sittengesetz im Grunde reines Vernunftgesetz, von der Religion unabhängig ist, wohl aber von der Religion, welche die Strebungen und Ideale des Wollens sittlich anregt und vertieft, unterstützt wird, in ihr den Hauch der Idealität, der Veredelung und Kräftigung empfängt. Oder mit andern Worten: die Sittlichkeit steht auf eignen Füßen, erhält aber in der Religion ihre höhere Weihe, ihre Vollendung. Das also in Bezug auf das gegenseitige Verhältniß von Religion und Sittlichkeit gewonnene Resultat findet der Verfasser unserer Schrift bestätigt durch den Entwickelungsgedanken. Das die Sittlichkeit normirende Gewissen ist nichts anderes, als die Sprache der Gattungsidee, welche in das individuelle Bewußtsein hereinragt und hier gegenüber allen Handlungen, welche der Würde und dem Wohle des Ganzen zuwiderlaufen, Veto einlegt. Es ist somit wesent¬ lich rechtlicher Natur, geht in seiner Entwickelung zunächst nur auf legales Rechtthun. Den Entwickelnngsgedcmken auf die Religion angewendet, so ergibt sich, daß die ästhetische religiöse Beziehung des Individuums zum Ganzen um ihn her in dem Grade lebendiger und inhaltreicher wurde, als sich die Ahnung eines ursächlichen Zusammenhangs der Dinge kräftigte. Waren im Fetischis¬ mus Ursache und Wirkung noch mit einander identifizirt und verwechselt, so verlegte der Dämonenglaube die Ursache hinter die Wirkung. Als das Denken stark genug war, eine Fülle einzelner Erscheinungen unter eine höhere kausale Einheit zu bringen, entstanden die höheren Naturgötter, und erst zuletzt vereinigten sich alle Götter dem denkenden Geiste zusammen in ein einziges, die ganze Welt verursachendes und beherrschendes Urwesen. Was endlich die Wechsel¬ beziehung zwischen Sittlichkeit und Religion betrifft, so zeigt die in dem Lichte des Eutwickelungsgedankens statthabende Betrachtung, daß Sittlichkeit und Religion eines das andere gefördert, vertieft, ergänzt haben. Speziell hat die Religion die höhere Stufe der Sittlichkeit, die Moralität herbeigeführt, in einer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/495>, abgerufen am 27.07.2024.