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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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Die uns vorliegende Arbeit plaidirt, wie uns bedünkt mit absolut stich¬
haltigen Gründen, für die Unabhängigkeit der Sittlichkeit von der Religion in
der unten näher zu bezeichnenden Weise. Es ist vor Allem eine lediglich naive
Auffassung der Religionsgeschichte, welche aus dieser den Beweis für die Be¬
dingtheit der Sittlichkeit durch die Religion erbringen will. Die kritische
Geschichtsauffassung belehrt uns eines Anderen, indem sie die sittlichen Begriffe
nicht als Folge, sondern als Ursache der religiösen aufzeigt. So bei den
wilden Naturvölkern, deren sittliche und religiöse Begriffe sich nach den
Zwecken und Verhältnissen des Stammes, der Horde, bilden und ändern, die
religiösen Begriffe also, daß das mit Rücksicht auf den Stamm als gut
Aufgefaßte jedesmal auch auf die Götter übertragen wird. Nicht anders
liegt die Sache bei den höheren Religionen: allüberall beruht die Religion
auf der Moral und nicht umgekehrt. Ormuzd und Ahriman sind nicht über¬
natürlich geoffenbarte Begriffe, sondern nur Abstraktionen oder besser gesagt
Personifikationen des zuvor menschlich gefundenen und empfundenen Guten und
Bösen. Ebenso ist der schone olympische Gestaltenkreis nichts als eine Ob-
jektivation physikalischer und ethischer Begriffe, also das Ergebniß einer fort¬
gesetzt und unmerklich thätigen Induktion des griechischen Geistes. Schwieriger
liegt die Sache im Christenthum, dessen Grundgedanke sich jedoch dahin
präzisiren läßt, daß Jesus beides vertritt: die Autonomie und auch die
Abhängigkeit der Sittlichkeit, jene, wenn er vom Wege zum Himmelreich, der
ethisch-religiösen Gemeinschaft der Kinder Gottes, spricht, den der Mensch aus
Anlaß der evangelischen Predigt aus eigener Einsicht und freier Entschließung
("Aendert euren Sinn, das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!") beschreiten
muß; diese, wenn er den vollendeten Zustand im Reiche selbst bezeichnet.
Die Sittlichkeit steht auf eigenen Füßen, aber erst im erwärmenden Lichte der
Religion gelaugt sie zur Vollendung, zur wahren Blüthe. Die Autonomie
des Sittengesetzes ergab sich auch jedesmal, wenn das philosophische Deuten
sich unbeeinflußt von dogmatischen Traditionen diesen Problemen widmete.
So schon in der ganzen griechischen Ethik, so, aber in tieferer Begründung bei
Kant, dem bahnbrechenden Geiste der neueren Philosophie. Nach ihm ist uus
das Sittengesetz mit und in unserer Vernunft unmittelbar gegeben, die Geltung
des Mvralgesetzes steht unabhängig vom Glanben an einen Gott fest. In
der neuesten Zeit ist die Annahme einer Autonomie der Sittlichkeit immer mehr
zur Geltung gelangt, obwohl auch die Abhängigkeit stärker als je betont wird,
nämlich von der Kirche. Aeußerlich hat sich dieser Gegensatz im Kampfe des
modernen Rechtsstaates mit der Hierarchie ausgeprägt. Dem bisher Gesagten
gesellt sich der Spruch des empirisch uns gegebenen Gewissens bei: das Sitten¬
gesetz äußert sich als Forderung der menschlichen Vernunft, nicht als Wille


Die uns vorliegende Arbeit plaidirt, wie uns bedünkt mit absolut stich¬
haltigen Gründen, für die Unabhängigkeit der Sittlichkeit von der Religion in
der unten näher zu bezeichnenden Weise. Es ist vor Allem eine lediglich naive
Auffassung der Religionsgeschichte, welche aus dieser den Beweis für die Be¬
dingtheit der Sittlichkeit durch die Religion erbringen will. Die kritische
Geschichtsauffassung belehrt uns eines Anderen, indem sie die sittlichen Begriffe
nicht als Folge, sondern als Ursache der religiösen aufzeigt. So bei den
wilden Naturvölkern, deren sittliche und religiöse Begriffe sich nach den
Zwecken und Verhältnissen des Stammes, der Horde, bilden und ändern, die
religiösen Begriffe also, daß das mit Rücksicht auf den Stamm als gut
Aufgefaßte jedesmal auch auf die Götter übertragen wird. Nicht anders
liegt die Sache bei den höheren Religionen: allüberall beruht die Religion
auf der Moral und nicht umgekehrt. Ormuzd und Ahriman sind nicht über¬
natürlich geoffenbarte Begriffe, sondern nur Abstraktionen oder besser gesagt
Personifikationen des zuvor menschlich gefundenen und empfundenen Guten und
Bösen. Ebenso ist der schone olympische Gestaltenkreis nichts als eine Ob-
jektivation physikalischer und ethischer Begriffe, also das Ergebniß einer fort¬
gesetzt und unmerklich thätigen Induktion des griechischen Geistes. Schwieriger
liegt die Sache im Christenthum, dessen Grundgedanke sich jedoch dahin
präzisiren läßt, daß Jesus beides vertritt: die Autonomie und auch die
Abhängigkeit der Sittlichkeit, jene, wenn er vom Wege zum Himmelreich, der
ethisch-religiösen Gemeinschaft der Kinder Gottes, spricht, den der Mensch aus
Anlaß der evangelischen Predigt aus eigener Einsicht und freier Entschließung
(„Aendert euren Sinn, das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!") beschreiten
muß; diese, wenn er den vollendeten Zustand im Reiche selbst bezeichnet.
Die Sittlichkeit steht auf eigenen Füßen, aber erst im erwärmenden Lichte der
Religion gelaugt sie zur Vollendung, zur wahren Blüthe. Die Autonomie
des Sittengesetzes ergab sich auch jedesmal, wenn das philosophische Deuten
sich unbeeinflußt von dogmatischen Traditionen diesen Problemen widmete.
So schon in der ganzen griechischen Ethik, so, aber in tieferer Begründung bei
Kant, dem bahnbrechenden Geiste der neueren Philosophie. Nach ihm ist uus
das Sittengesetz mit und in unserer Vernunft unmittelbar gegeben, die Geltung
des Mvralgesetzes steht unabhängig vom Glanben an einen Gott fest. In
der neuesten Zeit ist die Annahme einer Autonomie der Sittlichkeit immer mehr
zur Geltung gelangt, obwohl auch die Abhängigkeit stärker als je betont wird,
nämlich von der Kirche. Aeußerlich hat sich dieser Gegensatz im Kampfe des
modernen Rechtsstaates mit der Hierarchie ausgeprägt. Dem bisher Gesagten
gesellt sich der Spruch des empirisch uns gegebenen Gewissens bei: das Sitten¬
gesetz äußert sich als Forderung der menschlichen Vernunft, nicht als Wille


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[0492] Die uns vorliegende Arbeit plaidirt, wie uns bedünkt mit absolut stich¬ haltigen Gründen, für die Unabhängigkeit der Sittlichkeit von der Religion in der unten näher zu bezeichnenden Weise. Es ist vor Allem eine lediglich naive Auffassung der Religionsgeschichte, welche aus dieser den Beweis für die Be¬ dingtheit der Sittlichkeit durch die Religion erbringen will. Die kritische Geschichtsauffassung belehrt uns eines Anderen, indem sie die sittlichen Begriffe nicht als Folge, sondern als Ursache der religiösen aufzeigt. So bei den wilden Naturvölkern, deren sittliche und religiöse Begriffe sich nach den Zwecken und Verhältnissen des Stammes, der Horde, bilden und ändern, die religiösen Begriffe also, daß das mit Rücksicht auf den Stamm als gut Aufgefaßte jedesmal auch auf die Götter übertragen wird. Nicht anders liegt die Sache bei den höheren Religionen: allüberall beruht die Religion auf der Moral und nicht umgekehrt. Ormuzd und Ahriman sind nicht über¬ natürlich geoffenbarte Begriffe, sondern nur Abstraktionen oder besser gesagt Personifikationen des zuvor menschlich gefundenen und empfundenen Guten und Bösen. Ebenso ist der schone olympische Gestaltenkreis nichts als eine Ob- jektivation physikalischer und ethischer Begriffe, also das Ergebniß einer fort¬ gesetzt und unmerklich thätigen Induktion des griechischen Geistes. Schwieriger liegt die Sache im Christenthum, dessen Grundgedanke sich jedoch dahin präzisiren läßt, daß Jesus beides vertritt: die Autonomie und auch die Abhängigkeit der Sittlichkeit, jene, wenn er vom Wege zum Himmelreich, der ethisch-religiösen Gemeinschaft der Kinder Gottes, spricht, den der Mensch aus Anlaß der evangelischen Predigt aus eigener Einsicht und freier Entschließung („Aendert euren Sinn, das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!") beschreiten muß; diese, wenn er den vollendeten Zustand im Reiche selbst bezeichnet. Die Sittlichkeit steht auf eigenen Füßen, aber erst im erwärmenden Lichte der Religion gelaugt sie zur Vollendung, zur wahren Blüthe. Die Autonomie des Sittengesetzes ergab sich auch jedesmal, wenn das philosophische Deuten sich unbeeinflußt von dogmatischen Traditionen diesen Problemen widmete. So schon in der ganzen griechischen Ethik, so, aber in tieferer Begründung bei Kant, dem bahnbrechenden Geiste der neueren Philosophie. Nach ihm ist uus das Sittengesetz mit und in unserer Vernunft unmittelbar gegeben, die Geltung des Mvralgesetzes steht unabhängig vom Glanben an einen Gott fest. In der neuesten Zeit ist die Annahme einer Autonomie der Sittlichkeit immer mehr zur Geltung gelangt, obwohl auch die Abhängigkeit stärker als je betont wird, nämlich von der Kirche. Aeußerlich hat sich dieser Gegensatz im Kampfe des modernen Rechtsstaates mit der Hierarchie ausgeprägt. Dem bisher Gesagten gesellt sich der Spruch des empirisch uns gegebenen Gewissens bei: das Sitten¬ gesetz äußert sich als Forderung der menschlichen Vernunft, nicht als Wille

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/492>, abgerufen am 27.07.2024.