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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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Folgen des Gebrauchs und Nichtgebrauchs, Korrelation des Wachsthums, Ver¬
erbung. Die Wirkungen des ersten Gesetzes bestehen darin, daß die Organe
durch den Gebrauch sich mehr und mehr entwickeln, während sie bei Nichtge-
brauch zurückbleiben und endlich ganz verkümmern. Das zweite Gesetz beruht
darauf, daß gewisse Theile des Organismus in einer bis jetzt unerforschten
Weise mit einander sympathisiren, so daß Veränderungen, welche den einen
Theil treffen, ähnliche Veränderungen an anderen Theilen ohne Weiteres nach
sich ziehen. Durch das Gesetz der Vererbung werden dann die Wirkungen der
erwähnten zwei Gesetze auch auf die Nachkommen übertragen, so daß Abwei¬
chungen, indem sie sich mehr und mehr verstärken oder häufen, allmälig zu
artbestimmenden Merkmalen potenzirt werden. Diese "Gesetze" hat
Darwin aus langjährigen Beobachtungen an zahmen Tauben gewonnen. Aber
eben diese Beobachtungen geben ihm auch den Schlüssel für die Abstammungs¬
lehre in ihrer Anwendung anf die in freiem Naturzustande lebenden Orga¬
nismen. In dem beständigen Kampf ums Dasein nämlich, in welchem alle
Organismen sich befinden, werden nur die tauglichsten, den Verhältnissen am
besten angepaßten erhalten und fortgepflanzt, während die übrigen zu Grunde
gehen. Diese Auslese oder Zuchtwahl (Selektion) vollbringt die Natur
selbst und zwar durch blindes Zusammentreffen ihrer komplizirten Kräfte, ohne
irgend welche Zweckthätigkeit (Teleologie). Die Abänderungen endlich denkt
sich Darwin nur als unmerklich kleine, so daß erst durch Häufung derselben
ein erkennbares Resultat erzeugt wird. Die drei Hauptgedanken der Züchtungs-
lehre sind also: Kampf ums Dasein, Ausschluß aller Teleologie,
Transmutation durch Summation minimaler Abweichungen.

Während Darwin als echter Forscher mit der Anwendung seiner Theorie
auf die ganze organische Welt, speziell auf den Menschen sehr vorsichtig war,
hat bekanntlich E. Haeckel in seiner "Natürlichen Schöpfungsgeschichte" sich
veranlaßt gefühlt, anch auf den Menschen die Theorie Darwin's anzuwenden.
Darwin hat ihm dafür volle Anerkennung gezollt.^) In fein humoristischer
Weise giebt unsere Schrift nach Haeckel den Stammbaum des Menschen, der,
nachdem er unmeßbare Zeiträume hindurch den Schlaf der anorganischen
Materie geschlafen, aus der Kohleustoffverbindung, in welcher er bei der Prim-
ordialperiode sich fand, zunächst zum Eiweißklumpen der Monere, dann zur
Zelle u. s. w. u. s. w. bis zum sprachlosen Affenmenschen (Alali) sich ent¬
wickelte, von welchem aus der Erwerb der Sprache uns allmälig auf die
jetzige Stufe des eigentlichen dowo, Mensch, emporhob, ungewiß ob in der
tertiären oder schon in der quartären Zeit. Haeckel will diesen Stammbaum



*) A D. Red. ndere, selbst Virchow, sind anderer Meinung,

Folgen des Gebrauchs und Nichtgebrauchs, Korrelation des Wachsthums, Ver¬
erbung. Die Wirkungen des ersten Gesetzes bestehen darin, daß die Organe
durch den Gebrauch sich mehr und mehr entwickeln, während sie bei Nichtge-
brauch zurückbleiben und endlich ganz verkümmern. Das zweite Gesetz beruht
darauf, daß gewisse Theile des Organismus in einer bis jetzt unerforschten
Weise mit einander sympathisiren, so daß Veränderungen, welche den einen
Theil treffen, ähnliche Veränderungen an anderen Theilen ohne Weiteres nach
sich ziehen. Durch das Gesetz der Vererbung werden dann die Wirkungen der
erwähnten zwei Gesetze auch auf die Nachkommen übertragen, so daß Abwei¬
chungen, indem sie sich mehr und mehr verstärken oder häufen, allmälig zu
artbestimmenden Merkmalen potenzirt werden. Diese „Gesetze" hat
Darwin aus langjährigen Beobachtungen an zahmen Tauben gewonnen. Aber
eben diese Beobachtungen geben ihm auch den Schlüssel für die Abstammungs¬
lehre in ihrer Anwendung anf die in freiem Naturzustande lebenden Orga¬
nismen. In dem beständigen Kampf ums Dasein nämlich, in welchem alle
Organismen sich befinden, werden nur die tauglichsten, den Verhältnissen am
besten angepaßten erhalten und fortgepflanzt, während die übrigen zu Grunde
gehen. Diese Auslese oder Zuchtwahl (Selektion) vollbringt die Natur
selbst und zwar durch blindes Zusammentreffen ihrer komplizirten Kräfte, ohne
irgend welche Zweckthätigkeit (Teleologie). Die Abänderungen endlich denkt
sich Darwin nur als unmerklich kleine, so daß erst durch Häufung derselben
ein erkennbares Resultat erzeugt wird. Die drei Hauptgedanken der Züchtungs-
lehre sind also: Kampf ums Dasein, Ausschluß aller Teleologie,
Transmutation durch Summation minimaler Abweichungen.

Während Darwin als echter Forscher mit der Anwendung seiner Theorie
auf die ganze organische Welt, speziell auf den Menschen sehr vorsichtig war,
hat bekanntlich E. Haeckel in seiner „Natürlichen Schöpfungsgeschichte" sich
veranlaßt gefühlt, anch auf den Menschen die Theorie Darwin's anzuwenden.
Darwin hat ihm dafür volle Anerkennung gezollt.^) In fein humoristischer
Weise giebt unsere Schrift nach Haeckel den Stammbaum des Menschen, der,
nachdem er unmeßbare Zeiträume hindurch den Schlaf der anorganischen
Materie geschlafen, aus der Kohleustoffverbindung, in welcher er bei der Prim-
ordialperiode sich fand, zunächst zum Eiweißklumpen der Monere, dann zur
Zelle u. s. w. u. s. w. bis zum sprachlosen Affenmenschen (Alali) sich ent¬
wickelte, von welchem aus der Erwerb der Sprache uns allmälig auf die
jetzige Stufe des eigentlichen dowo, Mensch, emporhob, ungewiß ob in der
tertiären oder schon in der quartären Zeit. Haeckel will diesen Stammbaum



*) A D. Red. ndere, selbst Virchow, sind anderer Meinung,
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/489>, abgerufen am 27.07.2024.