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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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Individuen von der Natur so zu sagen ausgelesen, gezüchtet und erhalten
werden, daß auf diese rein mechanische Weise minimale individuelle Eigen¬
thümlichkeiten befestigt, gehäuft und vererbt werden, und durch fortgesetzte
Summation sich endlich zu artbildenden Merkmalen erweitern. Darwin ist
also durchaus nicht der Entdecker der Deszendenztheorie, sondern nur der
Selektionstheorie oder Züchtungslehre. Die Gleichsetzung von Dar¬
winismus, der eigentlich nur Züchtungslehre ist, mit Deszendenztheorie über¬
haupt ist sonach unrichtig. Alle Einzelfragen der organischen Deszendenz
gruppiren sich um die oberste Alternative: muß die Art entweder als beständig
oder als veränderlich aufgefaßt werden? Darwin ist für die Veränderlichkeit
eingetreten, und wenn auch in dem dadurch erregten Streit das letzte Wort
noch auf lange hinaus nicht wird ausgesprochen werden können, so hat sich bis
jetzt doch mehr Anhalt sür die Deszendenztheorie ergeben, während der Dar¬
winische Erklärungsversuch, die Züchtuugslehre, sich manche Einschränkung,
Berichtigung und Ergänzung wird gefallen lassen müssen.

Nachdem wir also bezüglich der Abstammungslehre geschichtlich orientirt
sind, legt uns der Verfasser unserer Schrift in strengem Anschlusse an Darwin
die wichtigsten Thatsachen dar, welche Darwin eine Abstammung vermuthe"
lassen und giebt sodann die sogen. "Gesetze" dieser Abstammung an. In
ersterer Hinsicht stützen vor Allem zahlreiche morphologische und physiologische
Aehnlichkeiten zwischen Mensch und Thier (Bau des Menschen und der höheren
Thiere nach demselben allgemeinen Typus, Entstehung von Mensch und Thier
aus dem nicht wesentlich verschiedenen El u. s. w.) die Annahme, daß Men¬
schen und Thiere nach dem gleichen Plane organisirt sind. Sodann aber wird
diese Ansicht weiter unterstützt durch viele Thatsachen aus dem seelischen Leben
und seinen Aeußerungen (Gemeinsamkeit gewisser Instinkte, z. B. Selbster¬
haltungstrieb bei Menschen und Thieren, Empfindung von Frende und
Schmerz, Glück und Unglück wenigstens bei den höheren Thieren, Nach¬
ahmungstrieb derselben, Vermögen der Aufmerksamkeit, Einbildungskrast, Ver¬
stand u. s. w."°) Alles dies spricht eindringlich dasür, daß Mensch und Thier
nahe verwandt sind, daß sie nicht generell, sondern nur graduell aus einander
gehen und daß der Mensch seine Herkunft von Daseinsformen abzuleiten hat,
die zu ihren Zeiten nicht höher standen als gewisse Stufen der Thierwelt heute
noch stehen. Was nnn die sogen. "Gesetze" anlangt, nach welchen die Trans¬
mutation möglich und nothwendig ist -- nud lediglich der Nachweis dieser
"Gesetze" giebt Vollbeweis -- so denkt sich Darwin besonders drei wirksam:



*) Alle diese vermeintlich seelischen Aeußerungen des Thierlebens werden aber von
D. Red. andern Naturforschern auf rein körperliche Empirie u. s. w. zurückgeführt.

Individuen von der Natur so zu sagen ausgelesen, gezüchtet und erhalten
werden, daß auf diese rein mechanische Weise minimale individuelle Eigen¬
thümlichkeiten befestigt, gehäuft und vererbt werden, und durch fortgesetzte
Summation sich endlich zu artbildenden Merkmalen erweitern. Darwin ist
also durchaus nicht der Entdecker der Deszendenztheorie, sondern nur der
Selektionstheorie oder Züchtungslehre. Die Gleichsetzung von Dar¬
winismus, der eigentlich nur Züchtungslehre ist, mit Deszendenztheorie über¬
haupt ist sonach unrichtig. Alle Einzelfragen der organischen Deszendenz
gruppiren sich um die oberste Alternative: muß die Art entweder als beständig
oder als veränderlich aufgefaßt werden? Darwin ist für die Veränderlichkeit
eingetreten, und wenn auch in dem dadurch erregten Streit das letzte Wort
noch auf lange hinaus nicht wird ausgesprochen werden können, so hat sich bis
jetzt doch mehr Anhalt sür die Deszendenztheorie ergeben, während der Dar¬
winische Erklärungsversuch, die Züchtuugslehre, sich manche Einschränkung,
Berichtigung und Ergänzung wird gefallen lassen müssen.

Nachdem wir also bezüglich der Abstammungslehre geschichtlich orientirt
sind, legt uns der Verfasser unserer Schrift in strengem Anschlusse an Darwin
die wichtigsten Thatsachen dar, welche Darwin eine Abstammung vermuthe»
lassen und giebt sodann die sogen. „Gesetze" dieser Abstammung an. In
ersterer Hinsicht stützen vor Allem zahlreiche morphologische und physiologische
Aehnlichkeiten zwischen Mensch und Thier (Bau des Menschen und der höheren
Thiere nach demselben allgemeinen Typus, Entstehung von Mensch und Thier
aus dem nicht wesentlich verschiedenen El u. s. w.) die Annahme, daß Men¬
schen und Thiere nach dem gleichen Plane organisirt sind. Sodann aber wird
diese Ansicht weiter unterstützt durch viele Thatsachen aus dem seelischen Leben
und seinen Aeußerungen (Gemeinsamkeit gewisser Instinkte, z. B. Selbster¬
haltungstrieb bei Menschen und Thieren, Empfindung von Frende und
Schmerz, Glück und Unglück wenigstens bei den höheren Thieren, Nach¬
ahmungstrieb derselben, Vermögen der Aufmerksamkeit, Einbildungskrast, Ver¬
stand u. s. w."°) Alles dies spricht eindringlich dasür, daß Mensch und Thier
nahe verwandt sind, daß sie nicht generell, sondern nur graduell aus einander
gehen und daß der Mensch seine Herkunft von Daseinsformen abzuleiten hat,
die zu ihren Zeiten nicht höher standen als gewisse Stufen der Thierwelt heute
noch stehen. Was nnn die sogen. „Gesetze" anlangt, nach welchen die Trans¬
mutation möglich und nothwendig ist — nud lediglich der Nachweis dieser
„Gesetze" giebt Vollbeweis — so denkt sich Darwin besonders drei wirksam:



*) Alle diese vermeintlich seelischen Aeußerungen des Thierlebens werden aber von
D. Red. andern Naturforschern auf rein körperliche Empirie u. s. w. zurückgeführt.
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[0488] Individuen von der Natur so zu sagen ausgelesen, gezüchtet und erhalten werden, daß auf diese rein mechanische Weise minimale individuelle Eigen¬ thümlichkeiten befestigt, gehäuft und vererbt werden, und durch fortgesetzte Summation sich endlich zu artbildenden Merkmalen erweitern. Darwin ist also durchaus nicht der Entdecker der Deszendenztheorie, sondern nur der Selektionstheorie oder Züchtungslehre. Die Gleichsetzung von Dar¬ winismus, der eigentlich nur Züchtungslehre ist, mit Deszendenztheorie über¬ haupt ist sonach unrichtig. Alle Einzelfragen der organischen Deszendenz gruppiren sich um die oberste Alternative: muß die Art entweder als beständig oder als veränderlich aufgefaßt werden? Darwin ist für die Veränderlichkeit eingetreten, und wenn auch in dem dadurch erregten Streit das letzte Wort noch auf lange hinaus nicht wird ausgesprochen werden können, so hat sich bis jetzt doch mehr Anhalt sür die Deszendenztheorie ergeben, während der Dar¬ winische Erklärungsversuch, die Züchtuugslehre, sich manche Einschränkung, Berichtigung und Ergänzung wird gefallen lassen müssen. Nachdem wir also bezüglich der Abstammungslehre geschichtlich orientirt sind, legt uns der Verfasser unserer Schrift in strengem Anschlusse an Darwin die wichtigsten Thatsachen dar, welche Darwin eine Abstammung vermuthe» lassen und giebt sodann die sogen. „Gesetze" dieser Abstammung an. In ersterer Hinsicht stützen vor Allem zahlreiche morphologische und physiologische Aehnlichkeiten zwischen Mensch und Thier (Bau des Menschen und der höheren Thiere nach demselben allgemeinen Typus, Entstehung von Mensch und Thier aus dem nicht wesentlich verschiedenen El u. s. w.) die Annahme, daß Men¬ schen und Thiere nach dem gleichen Plane organisirt sind. Sodann aber wird diese Ansicht weiter unterstützt durch viele Thatsachen aus dem seelischen Leben und seinen Aeußerungen (Gemeinsamkeit gewisser Instinkte, z. B. Selbster¬ haltungstrieb bei Menschen und Thieren, Empfindung von Frende und Schmerz, Glück und Unglück wenigstens bei den höheren Thieren, Nach¬ ahmungstrieb derselben, Vermögen der Aufmerksamkeit, Einbildungskrast, Ver¬ stand u. s. w."°) Alles dies spricht eindringlich dasür, daß Mensch und Thier nahe verwandt sind, daß sie nicht generell, sondern nur graduell aus einander gehen und daß der Mensch seine Herkunft von Daseinsformen abzuleiten hat, die zu ihren Zeiten nicht höher standen als gewisse Stufen der Thierwelt heute noch stehen. Was nnn die sogen. „Gesetze" anlangt, nach welchen die Trans¬ mutation möglich und nothwendig ist — nud lediglich der Nachweis dieser „Gesetze" giebt Vollbeweis — so denkt sich Darwin besonders drei wirksam: *) Alle diese vermeintlich seelischen Aeußerungen des Thierlebens werden aber von D. Red. andern Naturforschern auf rein körperliche Empirie u. s. w. zurückgeführt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/488>, abgerufen am 27.07.2024.