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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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eine Frage von ganz ungewöhnlicher Tragweite, eine Theorie, von der wir,
sofern sie siegreich bleiben sollte, eine völlige Veränderung der Physiognomie
des Bisherigen zu erwarten haben, eine Umwälzung in den Wissenschaften,
eine ganz wesentliche Beeinflussung des staatlichen Lebens, der sozialen Verhält¬
nisse, vor Allem aber die tiefgreifendste Einwirkung auf Dogmatik und Kirche.
Wo solche Interessen und in solcher Weise berührt werden, da kann die all-
seitigste Antheilnahme an den geführten Verhandlungen nicht fehlen. Indem
diese neueste Publikation*) die, welche Antheilnahme entgegenbringen, in der
bezeichneten Richtung orientirend leiten will, verspricht und erfüllt der Verfasser
zwei Vorbedingungen, die nicht hoch genug zu schätzen sind: "Klarheit verbunden
mit Gründlichkeit und Ehrlichkeit, die selbst schmerzliche Folgerungen, wenn sie
unabweisbar werden, nicht scheut."

Vor Allem zieht unsere Schrift die Abstammungslehre in den Kreis
ihrer Erörterungen, indem sie zunächst die Geschichte derselben gibt. In Betreff
der Entstehung der Organismen sind im Grunde nur zwei Auffassungen möglich:
die einzelnen Thier- und Pflanzenarten sind entweder durch unmittelbare
Schöpfungsakte eines allmächtigen Gottes ein sür allemal fertig in's Dasein
gerufen worden, oder aber sie haben sich von niederen Formen der Organisation
allmälig herauf entwickelt. Erstere Ansicht ist die bekannte Schöpfnngstheorie,
letztere die Entwickelungslehre (Evolutionstheorie), gewöhnlich Ab stammung s-
ichre (Deszendenztheorie) genannt. Jene ist die Theorie der naiven, nicht
philosophisch eindringenden Naturbetrachtung, sie findet sich bei allen Völkern
des Alterthums und ist infolge des mosaischen Berichtes Glaubenssatz der
christlichen Kirche geworden, und bis auf die jüngste Zeit, gestützt namentlich
auch durch Cuvier, in fast unbestrittener Geltung geblieben. Die Spur der
Entwickelungslehre dagegen leitet höchstens hundert Jahre in die Vergangenheit
zurück, zunächst zu Kant, welcher den Gedanken der Entwickelung auf dem
Wege fortgesetzter Umbildung, ferner die Gesetze der Anpassung und Vererbung
vertrat. Schelling, Oken, Goethe, vor allem aber der Franzose Lamarck
(1809) stehen im Wesentlichen ans dem Boden dieser Lehre, die sodann in
neuerer Zeit zahlreiche Anhänger unter den englischen und deutschen Natur¬
forschern fand. Unter Allen ragt der Engländer Darwin (geb. 1809) gewaltig
hervor. Der Fnndcunentcilscitz der von ihm vertretenen Theorie ist: daß die
Abstammung der Organismen sich durch das Prinzip der Selektion oder
Auslese erkläre, mit andern Worten: daß in dem Kampfe um's Dasein, den
alle Organismen zu führen hätten, immer nur die tüchtigsten und biegsamsten



*) Bis zu Anfang des Jahres 1376 hatten nach ungefährer Schätzung bereits nicht
weniger als 800 Publikationen über die Darwinistische Frage das Licht der Welt erblickt.

eine Frage von ganz ungewöhnlicher Tragweite, eine Theorie, von der wir,
sofern sie siegreich bleiben sollte, eine völlige Veränderung der Physiognomie
des Bisherigen zu erwarten haben, eine Umwälzung in den Wissenschaften,
eine ganz wesentliche Beeinflussung des staatlichen Lebens, der sozialen Verhält¬
nisse, vor Allem aber die tiefgreifendste Einwirkung auf Dogmatik und Kirche.
Wo solche Interessen und in solcher Weise berührt werden, da kann die all-
seitigste Antheilnahme an den geführten Verhandlungen nicht fehlen. Indem
diese neueste Publikation*) die, welche Antheilnahme entgegenbringen, in der
bezeichneten Richtung orientirend leiten will, verspricht und erfüllt der Verfasser
zwei Vorbedingungen, die nicht hoch genug zu schätzen sind: „Klarheit verbunden
mit Gründlichkeit und Ehrlichkeit, die selbst schmerzliche Folgerungen, wenn sie
unabweisbar werden, nicht scheut."

Vor Allem zieht unsere Schrift die Abstammungslehre in den Kreis
ihrer Erörterungen, indem sie zunächst die Geschichte derselben gibt. In Betreff
der Entstehung der Organismen sind im Grunde nur zwei Auffassungen möglich:
die einzelnen Thier- und Pflanzenarten sind entweder durch unmittelbare
Schöpfungsakte eines allmächtigen Gottes ein sür allemal fertig in's Dasein
gerufen worden, oder aber sie haben sich von niederen Formen der Organisation
allmälig herauf entwickelt. Erstere Ansicht ist die bekannte Schöpfnngstheorie,
letztere die Entwickelungslehre (Evolutionstheorie), gewöhnlich Ab stammung s-
ichre (Deszendenztheorie) genannt. Jene ist die Theorie der naiven, nicht
philosophisch eindringenden Naturbetrachtung, sie findet sich bei allen Völkern
des Alterthums und ist infolge des mosaischen Berichtes Glaubenssatz der
christlichen Kirche geworden, und bis auf die jüngste Zeit, gestützt namentlich
auch durch Cuvier, in fast unbestrittener Geltung geblieben. Die Spur der
Entwickelungslehre dagegen leitet höchstens hundert Jahre in die Vergangenheit
zurück, zunächst zu Kant, welcher den Gedanken der Entwickelung auf dem
Wege fortgesetzter Umbildung, ferner die Gesetze der Anpassung und Vererbung
vertrat. Schelling, Oken, Goethe, vor allem aber der Franzose Lamarck
(1809) stehen im Wesentlichen ans dem Boden dieser Lehre, die sodann in
neuerer Zeit zahlreiche Anhänger unter den englischen und deutschen Natur¬
forschern fand. Unter Allen ragt der Engländer Darwin (geb. 1809) gewaltig
hervor. Der Fnndcunentcilscitz der von ihm vertretenen Theorie ist: daß die
Abstammung der Organismen sich durch das Prinzip der Selektion oder
Auslese erkläre, mit andern Worten: daß in dem Kampfe um's Dasein, den
alle Organismen zu führen hätten, immer nur die tüchtigsten und biegsamsten



*) Bis zu Anfang des Jahres 1376 hatten nach ungefährer Schätzung bereits nicht
weniger als 800 Publikationen über die Darwinistische Frage das Licht der Welt erblickt.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/487>, abgerufen am 27.07.2024.